Dr. Sex
Generation von Studenten es auf eine Weise strapaziert hatte, die für eine Reihe anderer Häuser dieses Alters das Ende bedeutet hatte. Leider war es ungefähr so gut isoliert wie eine Apfelsinenkiste, und der unwillige, altmodische Kohleofen schien nicht imstande, die Temperatur spürbar über die Zone unverhohlener Ungemütlichkeit hinaus zu heben. Im vorigen Winter war ich eines Morgens erwacht und hatte festgestellt, daß sich zwischen meinen Lippen und dem Wasser in dem Glas, das ich am Vorabend auf den Nachttisch gestellt hatte, eine Eisschicht befand. Noch einen Monat später nannte Paul mich nur Nanuk.
Auf dem Tisch in einer Ecke des Zimmers thronte die gebrauchte Olympia-Schreibmaschine, die meine Mutter mir zu Beginn des Studiums geschenkt hatte, und daneben prangte ein altes Philco-Radio, das meine Großmutter hatte wegwerfen wollen. An der gegenüberliegenden Wand, neben der Tür, stand ein würdevoll nach Naphthalin riechender Schrank. Wir teilten uns den begrenzten Platz, den er bot; auf einem Dutzend abgewetzter Kleiderbügel hingen unsere Hemden, Hosen und Anzüge (jeder von uns besaß einen: meiner hatte ein zur Krawatte passendes Glencheckmuster, Pauls Anzug war ein abgelegtes Stück aus blauem Serge, dessen Ärmel gut sieben Zentimeter zu kurz waren). Die Schuhe hatten ihren Platz unter dem Bett, die Mäntel hingen im Vestibül an den dafür vorgesehenen Haken, persönliche Gegenstände legten wir auf unseren identischen Schreibtischen ab, und die Bücher standen ordentlich aufgereiht in einem billigen Regal aus Kiefernholz, das ich auf einem Flohmarkt gefunden hatte (vier Bretter, gerecht geteilt, vierzig Zentimeter für mich, vierzig Zentimeter für Paul). Das Badezimmer war auf der anderen Seite des Korridors.
An den meisten Abenden stellten Paul und ich das Radio an (wir beschränkten uns auf zwei Serien und hörten anschließend noch Swingmusik aus Cincinnati, die infolge der Entfernung so leise und verschwommen war wie ein Flüstern), legten uns, auf Kissen gestützt, ins Bett und lernten, bis unsere Finger vor Kälte steif waren. An diesem Abend jedoch hatte Paul eine Verabredung, so daß ich das Zimmer für mich allein hatte. Es ging allerdings nicht sehr still und friedlich zu: Ich hörte den Lärm und das Trampeln der anderen Studenten, die dort wohnten, und die langen Diskussionen über alles mögliche – von der Existenz Gottes bis hin zur Lebensraum-Ideologie der Nazis –, die grundsätzlich vor der Badezimmertür stattzufinden schienen. Gegen zehn war aus dem Eisregen Schnee geworden.
Ich lag unter der Bettdecke und versuchte zu lesen – wenn ich mich recht erinnere, hatte ich am nächsten Tag eine Prüfung –, doch ich kam nicht sehr weit. Die Zweige der Ulme hinter dem Haus kratzten an der Fassade, als wollte irgend etwas an der Hauswand hochklettern, um dem Schneesturm zu entkommen, und der Radioempfang war so schlecht, daß ich aufstand und den Apparat ausschaltete. Ich rieb einen Kreis in den Reif auf der Fensterscheibe und spähte hinaus. Die Welt war undurchdringlich und verschwommen, das Licht der Straßenlaternen war zu einem Nichts geschrumpft, und ich hörte nur den Wind und das unregelmäßige Scharren des Schnees an der Scheibe. Ich fühlte mich klein und eingesperrt. Rastlos. Gelangweilt.
Ich dachte an Dr. Kinsey – um ehrlich zu sein: Ich hatte den ganzen Abend, selbst beim Essen, an kaum etwas anderes gedacht – und ging wohl zum zwanzigsten Mal durch das Zimmer zu meinem Schreibtisch, um mir die Postkarte anzusehen, die er mir gegeben hatte. Ich ließ eine Hand in den Schoß sinken, wo ich einen leichten Druck verspürte, und begann gedankenverloren, mich durch eine Lage Gabardine zu massieren. Und wie sollte ich messen? Ich besaß kein Lineal. Natürlich konnte ich mir eins von Bob Hickenlooper leihen, dem Architektur-Überflieger, der ein paar Zimmer weiter wohnte – wenn es in diesem Haus ein Lineal gab, dann bei ihm –, aber ich hatte mich mit dem Gedanken noch nicht angefreundet. Es war irgendwie obszön, ja geradezu lächerlich. Den eigenen Penis messen? Aber natürlich steckte dahinter noch mehr – Sie haben es sicher bereits erraten: Was, wenn meine Maße unter dem Durchschnitt lagen? Wenn mein Penis, nun ja, kleiner war als der anderer Männer? Was dann? Würde ich ein paar Zentimeter aufschlagen, um den hervorragenden Wissenschaftler nicht zu enttäuschen, der die Ergebnisse begierig erwartete, um sie statistisch zu erfassen? Natürlich hatte
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