Dr. Sex
Regal und sprang auf, alles in einer Bewegung. Er hob den Blick und sah mich.
Es dauerte einen Moment. In sein ausdrucksloses Gesicht trat freudiges Erkennen. Er ging auf mich zu. »Milk«, sagte er, »hallo. Schön, Sie zu sehen.«
»Hallo, Sir. Ich ... ich dachte, Sie würden sich nicht an mich erinnern, bei den vielen Studenten, die Sie ...«
»Seien Sie nicht albern. Natürlich erinnere ich mich an Sie. John Milk aus Michigan City, geboren am 2. Oktober 1918.« Er sah mich mit seinem Patentlächeln an: Die obere Zahnreihe lag frei, zwei senkrechte Lachfalten strafften die Haut an seinem Kinn, und sein ganzes Gesicht erstrahlte vor unbändiger Freude. »Eins siebenundsiebzig, einundachtzig Kilo. Sie haben doch nicht etwa abgenommen?«
»Kaum«, sagte ich. Mein Lächeln war ein blasser Abklatsch des seinen, und ich dachte an die anderen Maße, die ich auf die Postkarte geschrieben und an ihn geschickt hatte, und auch an meine Geheimnisse, meine Scham und alles, was damit zusammenhing. »Sie wissen schon: Mutters Küche. In den Ferien.«
»Ja«, sagte er, »jaja, natürlich. Es geht nichts über Mutters Küche, stimmt’s?« Er lächelte noch breiter als zuvor, wenn das überhaupt möglich war. »Oder über Mutters Liebe.«
Ich mußte ihm zustimmen. Ich nickte, und dann löste sich dieser Augenblick von allem anderen und hing da, sanft übergossen vom Leuchten der Deckenlampen. Ich wurde mir der gedämpften Geräusche der anderen Bibliotheksbesucher bewußt, ich hörte ein Buch zu Boden fallen, ein Flüstern.
»Sie arbeiten hier, nehme ich an.«
Das bejahte ich. Allerdings hatte die Leitung meine Stundenzahl reduziert, und ich verdiente kaum noch genug, um über die Runden zu kommen. »Meistens ordne ich Bücher ein. Und wenn dann geschlossen ist, fege ich, leere die Papierkörbe und räume auf.«
Er stand da, musterte mich und wiegte sich auf den Fußballen vor und zurück. Unwillkürlich warf ich einen Blick auf das Buch: Das Liebesleben der Griechen von Hans Licht. »Sie kommen spät ins Bett, was? Verträgt sich das mit Ihrem Studium?«
Ich zuckte die Schultern. »Muß es ja wohl.«
Er schwieg für einen Augenblick, als faßte er einen Entschluß, und sah mir dabei in die Augen. »Wissen Sie, Milk ... John ...« sagte er leise, beinahe träumerisch, »wir haben einen Garten, Mrs. Kinsey und ich. Clara. Im Sommer ist er der Stolz von Bloomington, ein regelrechter botanischer Garten auf zweieinhalb Morgen fruchtbaren Landes – ich züchte Taglilien, Iris, und wir wollen einen Lilienteich anlegen. Sie sollten sich das mal ansehen, wirklich.«
Ich konnte ihm nicht ganz folgen. In letzter Zeit war ich etwas übermüdet, weil ich immer erst spät ins Bett kam, und mir fiel nichts Besseres ein, als ihn mit meinem kriecherischen Studentenblick anzusehen.
»Ich meine, ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach, ob ich nicht mal einen Studenten anheuern sollte, der mir hilft. Im Augenblick sind da natürlich nur gefrorene Erde und dürre Stengel, aber im Frühjahr werden wir alles zum Leben erwecken. Und bis dahin – und auch später, zusätzlich zu dem Gartenjob – brauchen wir jemanden für unsere Institutsbibliothek. Was sagen Sie dazu?«
Eine Woche später arbeitete ich im Institut für Biologie, mit erhöhter Stundenzahl und ohne Abendschichten. Die Institutsbibliothek umfaßte viel weniger Bände als die Unibibliothek, und entsprechend klein war die Benutzerzahl, so daß ich mehr Zeit für mich selbst hatte, Zeit, die ich mit Lernen verbringen konnte (und, um ehrlich zu sein, mit Tagträumen: Ich verbrachte in jenem Semester unverhältnismäßig viel Zeit damit, vor mich hin zu starren, als wären alle Antworten auf die Fragen des Lebens in einer krakeligen, verblaßten Schrift in die Luft geschrieben). Prok bekam ich nicht oft zu sehen, er blieb meist in seinem Büro im ersten Stock, und da das Forschungsprojekt gerade erst anlief, brauchte er noch keine Hilfe bei den Befragungen oder der Tabellierung der Antworten. Er war, wie Sie zweifellos wissen, eine der Koryphäen auf dem Gebiet der Cynipoideen – der Gallwespen – und damals noch damit beschäftigt, Eichengallen aus allen Teilen der USA zu sammeln. Drei Assistentinnen (Studentinnen im zweiten und dritten Studienjahr) waren ausschließlich damit beschäftigt, die Maße verschiedener Wespenexemplare zu verzeichnen und die Präparate in den dafür vorgesehenen Schmitt-Kästen zu befestigen. Taxonomie war seine Stärke, nicht nur als Entomologe,
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