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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Breite eines Bücherregals zum Beispiel. Meine Schritte waren wie Hammerschläge auf den Stufen. Der Sturm strich flüsternd über die Fensterscheiben.
In meinem Zimmer stellte ich fest, daß meine Begeisterung für Dr. Kinseys kleine statistische Übung abgeklungen war, doch ich öffnete pflichtbewußt den Gürtel, ließ die Hose hinunter, entrollte Mrs. Lorbers Maßband und wollte die Maße meines inzwischen erschlafften Penis nehmen. Doch kaum hatte ich das Band angelegt, da begann er wieder hart zu werden, und ich bekam keinen klaren Wert; bevor ich wußte, wie mir geschah, streichelte ich meinen Schwanz und dachte an Laura Feeney neben mir im Halbdunkel des Hörsaals – der Projektor klickte und klickte, und wir alle atmeten flach. Und dann sah ich ein Mädchen aus der ersten Reihe meines Literaturseminars, ein Mädchen mit vollen Lippen und blauen Augen, und ihre Waden liebkosten einander unter dem Tisch, bis ich glaubte, den Verstand zu verlieren, und schließlich war da nur noch eine namen- und gesichtslose Frau mit gereckten Brüsten und harten Brustwarzen, und ihre Möse – ja, so wollte ich es nennen, ihre Möse – sah genauso aus wie die auf der Leinwand.
Am nächsten Morgen erwachte ich früh. Das Licht, das durch das Fenster fiel, lag bebend auf der schrägen Zimmerdecke über dem Bett – es war ein bleicheres Licht als sonst, blauer, wie das wäßrige Leuchten am Grund eines Schwimmbeckens, und die Aussicht auf den ersten richtigen Schnee des Jahres erfüllte mich mit Vorfreude. Der Sturm war vorüber, doch der Himmel sah aus wie poliertes Silber, wie eine auf den Kopf gestellte gewaltige Suppenschüssel, aus der vereinzelt noch Flocken fielen. Ich ließ Paul schlafen. Er war spät heimgekommen, als ich schon längst im Bett lag, und ich wollte ihn nicht wecken – nicht so sehr aus Sorge um seinen Schönheitsschlaf, sondern weil ich nicht in Stimmung für Gesellschaft war. Ich wollte durch die Straßen stapfen, die Welt verwandelt sehen und diesen Anblick ganz für mich allein genießen, bevor ich in die Mensa ging, um zu frühstücken und vor der Prüfung noch einen letzten Blick in meine Aufzeichnungen zu werfen.
Es lag ein halber Meter Schnee, vielleicht sogar mehr – es war schwer zu sagen, denn der Wind hatte ihn an Zäunen und Gebäuden aufgetürmt. Die Bürgersteige waren noch nicht geräumt, die Autos standen zugeschneit und unter Verwehungen begraben am Straßenrand, und die Vögel flogen verwirrt aus dem Dunkel der immergrünen Büsche rechts und links der Straße über die weiß verhüllte, versiegelte Erde. Aus den Tiefen der Häuser schimmerte gedämpftes Licht. Es roch nach gebratenem Speck und Holzrauch, nach dem reinen, durchdringenden Duft der klaren Luft aus dem Norden.
Es war noch nicht sieben, und auf dem Campus war kaum ein Mensch zu sehen. Wer bereits unterwegs war, bewegte sich stumm über die verschneite Fläche, geduckte Gestalten, aus einem Traum vertrieben und hierher versetzt, wohin sie nicht gehörten, und in der Mensa saßen nur zehn Studenten – sonst waren es mindestens hundert. Sogar die Belegschaft war auf eine einzige Frau reduziert. Sie gab mit mechanischen Bewegungen das Essen aus, ging dann zur Kasse und nahm das Geld in Empfang. Ich setzte mich an einen Fenstertisch, rührte gedankenverloren Zucker in meinen Kaffee und starrte über meine Bücher hinweg auf die Bäume am Fluß. Es war einer dieser starken Augenblicke, in denen die Welt zum Stillstand kommt und ihre schlummernden Möglichkeiten offenbar werden. Magisch. Der magische Moment – hieß es nicht so in den Liebesliedern?
Sie sprach mich an, doch ich bemerkte es zunächst nicht – »Hallo, John. Hallo, hab ich gesagt« –, und als ich aufsah, erkannte ich sie nicht. Sie trug Wintermantel und Mütze, das seidige schwarze Haar hing wie ein geraffter Vorhang zu beiden Seiten ihres Gesichts herab, und ihre Augen leuchteten, als wären innen zwei winzige, von einer verborgenen Batterie gespeiste Glühbirnen. Es war sieben Uhr morgens – nein, noch nicht mal sieben Uhr morgens –, und sie hatte bereits Lidstrich aufgetragen, um die Farbe dieser Augen zu betonen, die es schafften, blau und grün zugleich zu sein – wie das Meer vor Havanna, wo das flache Küstenwasser in ozeanische Tiefen übergeht und dein weißes Boot dahingleitet und dich gemächlich von dieser Welt in eine andere trägt und alles sich in einem Traum auflöst. »Kennst du mich nicht mehr?«
Sie öffnete die Schnalle an ihrem

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