Dr. Sex
Gate Bridge. Unter uns wälzte sich Nebel, als würde der Ozean sprudelnd kochen, und wir sprachen nicht viel, nicht einmal Prok sagte etwas. Ich kann mich noch gut an den ersten Anblick des Gefängnisses erinnern: niedrig und geduckt vor einer Batterie baumloser Hügel, ein kompakter steinerner Bienenkorb mit Schlitzen anstelle von Fenstern, umgeben von mittelalterlicher Düsterkeit, als wäre es schon vor Kolumbus hier gewesen, bevor es Gesetze und Geschworene und Richter gab. Es war ein Ort der erzwungenen Buße. Und sollte einer der Insassen beschließen, daß er genug gebüßt hatte, und sich zu Zorn, blinder Wut und Gewalt hinreißen lassen, dann wären wir auf uns selbst gestellt. Als die Wachen am Tor den Wagen durchsuchten und meine Kehle trocken und meine Hände feucht wurden, wünschte ich, einen anderen Beruf zu haben. Oder wenigstens dieses eine Mal darum gebeten zu haben, zu Hause bei Iris und John junior bleiben zu dürfen.
Wie sich herausstellte, war der Gefängnisdirektor nicht weniger um unsere Sicherheit besorgt als wir selbst (oder jedenfalls ich; als wir drinnen waren, innerhalb der Gefängnismauern, schien Prok unbeeindruckt – für ihn war ein Proband wie der andere), und er hatte dafür gesorgt, daß wir zuerst die Elite-Insassen befragen konnten, die Anführer der verschiedenen Banden und Gruppen: den übelsten Mexikaner, den brutalsten Neger, den gefährlichsten Boxer und so weiter. Wenn es uns gelang, das Vertrauen dieser Anführer zu gewinnen, würden die anderen Interviews leichter vonstatten gehen – das war jedenfalls der Gedanke dahinter. Natürlich mußten wir absolut ungestört sein, und es kam nicht in Frage, mit den Gefangenen im Büro des Gefängnisdirektors oder auch dem des Kaplans zu reden, wo man uns hätte belauschen können. Proks Wahl fiel schließlich auf eine Reihe nicht mehr benutzter Zellen aus dem vorigen Jahrhundert, tief im Bauch des Gefängnisses. Die halbmeterdicken Wände bestanden aus Stein, und die Stahltüren waren aus einem Stück und lediglich mit kleinen Gucklöchern versehen. Dennoch hängte Prok Decken an die Türen, um auch das leiseste Geräusch zu dämpfen.
Mein erster Proband war ein Neger, der, wie er sagte, ganz und gar unschuldig verurteilt worden war. Man hatte ihn fälschlich beschuldigt, sich nach einer Meinungsverschiedenheit mit zwei Gästen in der Gasse hinter der Bar auf die Lauer gelegt und die beiden mit bloßen Fäusten erschlagen zu haben, nur mit Unterstützung einer Ziegelmauer, die als zweckmäßige, wenn auch unbewegliche Waffe gedient habe. Beinahe alle Gefangenen, die wir befragten, insbesondere die Sexualverbrecher, ließen sich lang und breit über ihre Unschuld aus. Dieser Mann wurde also von einem mißbilligend blickenden Wärter in die Zelle geführt (alle Wärter fanden es äußerst unklug, daß wir uns mit diesen Männern einschließen ließen, und schlugen sogar vor, wir sollten Trillerpfeifen um den Hals tragen, für den Fall, daß wir Hilfe brauchten), und ich bot ihm einen Stuhl, Zigaretten und eine kleine Flasche Coca-Cola an – im Gefängnis ein echter Luxus, denn Glas war aus naheliegenden Gründen streng verboten.
Der Neger war einunddreißig, klein, aber sehr kräftig gebaut, mit einem Katarakt in einem Auge und der Angewohnheit, den Kopf einzuziehen und seine Antworten zu murmeln, so daß ich ihn oft bitten mußte, den Satz zu wiederholen. Seine Sexgeschichte war überraschend unspektakulär: Es hatte nur sehr wenige einverständliche Aktivitäten mit dem anderen Geschlecht gegeben, wogegen die H-Aktivitäten infolge seiner langen Gefängnisstrafe überaus zahlreich waren. Er sprach freimütig und schien sogar Spaß an der Sache zu haben. Vermutlich gefiel ihm diese neue Situation ebenso wie die ausgesuchte Freundlichkeit, mit der ich ihn behandelte, die Colas (er trank drei Flaschen) und meine Freigebigkeit im Hinblick auf Zigaretten (er rauchte eine halbe Packung und steckte zwei weitere ein). Am Ende des Interviews beugte er sich über den Tisch und sagte: »Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen sollte, aber ich will ehrlich mit dir sein, weil du auch ehrlich mit mir warst, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja«, sagte ich und hielt mich an meinem Klemmbrett fest. »Wir geben uns Mühe ... Das heißt, wir sind stolz auf – wie sagt man das –, auf unseren Draht. Zu unseren Interviewpartnern, meine ich.«
»Also, dann hör zu: Ich bin nicht ganz so unschuldig, wie ich gesagt hab.« Eine Pause. Er
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