Dr. Sex
griff nach der Zigarette, die er sich für später hinters Ohr geklemmt hatte. »Die beiden in der Gasse? In der Nacht damals?«
Ich nickte.
»Na ja, ich hab sie abgemurkst. Meine Hände sahen aus wie Fleischstücke, bevor der Metzger sie einpackt, wenn du verstehst, was ich meine. Das kam daher, daß ich ihr Hirn durch meine Finger gequetscht hab, Jack.«
Darauf fiel mir keine Antwort ein. Es war nicht das, weswegen wir gekommen waren – es hätte einer ganz anderen Wissenschaft bedurft. Ich sah ihm in die Augen, oder vielmehr in das eine gesunde Auge. Es war nichts zu hören als das trockene Pfeifen unserer Lungen, der Blasebälge, die unsere innere Verbrennung in Gang hielten. Wir befanden uns in einer Gruft, tief unter der Erde. Hatte ich Angst? Ja. Und wie. Ich faßte mich lange genug, um zu sagen: »Ja? Und weiter?«
Er ließ sich Zeit. Das undisziplinierte Auge rollte herum wie ein Bullauge im Sturm, und dann griff er über den Tisch und packte mich am Handgelenk. »Dieser fette Wichser!« stieß er hervor.
»Wer?« Nicht reagieren, ermahnte ich mich. Laß dir nichts anmerken.
»McGahee.«
Ich war verwirrt. »Wer ist McGahee?«
Ein ungläubiger Blick. »Der Wärter!« rief er. »Dieser fette Wichser von einem Wärter!«
Wieder langes Schweigen. Ich hätte in ein Megaphon schreien können, es hätte mich niemand gehört.
»Ich werd ihn abmurksen. Heute abend.« Er sah über die Schulter zur Tür und der olivgrünen Decke, die wie ein Teppich vor dem Guckloch hing, und zog dann eine lange, dünne, bläulich schimmernde Klinge aus dem Hosenbund. Was war das nur? Ein zugespitzter Löffel, ein Stück von einem Bettgestell, der geschmolzene Überrest eines vom Himmel gefallenen Meteors? Metall, Stahl. Er hatte es – hier, im Gefängnis. Er hielt das Ding unter die Stehlampe, die ich zusammen mit dem Tisch und den Stühlen aufgestellt hatte. Dieser Stahl hatte eine Schneide, und sie fing das Licht mit einem raschen, gefährlichen Schimmern ein.
»Ich stech ihn ab«, flüsterte er, und jetzt war ich ein Mitwisser, ein Komplize, einer der Jungs in seiner Gang. »Den fetten Wichser«, setzte er bekräftigend hinzu, als er sich erhob, die beiden ungeöffneten Zigarettenpackungen einsteckte und zur Tür ging, um mit der Faust an die kalte Stahlplatte zu hämmern und dem Wärter am Ende des Gangs zuzubrüllen: »Mach auf! Das Interview hier ist aus!«
Ich bringe diesen Zwischenfall wegen des moralischen Dilemmas zur Sprache, vor das er uns stellte. Während der nächsten beiden Interviews – zuerst war der Boxer dran, dann kam der Jefe der Mexikaner – war ich wie betäubt, und kaum waren wir wieder im Wagen, da berichtete ich Prok und Corcoran davon. Der Nebel hüllte uns ein, und wir saßen in unserem Mietwagen, als wären wir selbst Gefangene, lebenslänglich gefangen in diesen Fragen, diesen Abläufen, diesen Vertraulichkeiten, die wie Urteilssprüche auf uns lasteten. Am liebsten hätte ich geschrien. Am liebsten hätte ich mir die Lunge aus dem Hals gebrüllt.
Prok saß steif neben mir, so dicht, daß unsere Beine sich berührten. Zu meiner anderen Seite saß Corcoran und sah hinaus in die Undurchdringlichkeit des atomisierten Lichts. Prok hatte den Wagen eilig starten wollen, doch nun hielt er inne, die Hand noch an dem Schlüssel, den er soeben ins Zündschloß gesteckt hatte. »Ich verstehe dein Dilemma, Milk«, sagte er dann. »Aber es könnte sein, daß er dich nur auf die Probe stellen will, das ist dir doch klar, oder? Wenn sich herumspricht, daß wir das Vertrauen mißbraucht haben, können wir einpacken. Und das gilt dann auch für alle anderen Strafanstalten.«
»Aber es könnte sein, daß das Leben eines Menschen, dieses Wärters, in Gefahr ist.« Ich sagte seinen Namen, als würde ich ihn von einem Grabstein ablesen: »McGahee.«
Prok ließ den Zündschlüssel los. Der Nebel schlug sich auf den Fenstern nieder. »Nein«, sagte er schließlich, »wir können das nicht tun, ganz gleich, wessen Leben in Gefahr ist. Das ist bedauerlich, und ich wünschte, diese Situation hätte sich nicht ergeben, aber wir dürfen das Projekt nicht gefährden. Und wir dürfen nicht vergessen, daß das alles vielleicht nur ein Test ist. Corcoran, stimmst du mir zu? Milk?«
Wie sich herausstellte, wurde in jener Nacht niemand umgebracht. Auch in der Nacht darauf nicht. Soviel ich weiß, wurde in der Zeit, die wir diesmal und später in San Quentin verbrachten, nicht ein einziger Wärter angegriffen. Ich dachte an diesen
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