Dr. Sex
zählte die verschiedenen Formen der Triebbefriedigung auf, die dem menschlichen Säugetier vom Beginn der Pubertät an zur Verfügung stehen – Masturbation, Petting, Koitus, orale Befriedigung –, und wandte sich dann der Häufigkeit zu, und hier wäre die Menge, die zu begreifen begann, wovon er da sprach, beinahe seiner Kontrolle entglitten. »Es gibt Menschen, denen ein einziger Orgasmus im Monat oder sogar im Jahr genügt, und es gibt andere, die mehrere Orgasmen pro Woche oder sogar pro Tag brauchen.«
Aus der Reihe hinter mir ertönte ein langgezogener Pfiff. Das Publikum reagierte wie auf einen Schlachtruf: Dieser aus vielen Einzelteilen zusammengefügte Organismus geriet in Bewegung und erzeugte dabei jenes Geräusch, das dem Rauschen des Windes in den Bäumen gleicht, doch Proks nächste Bemerkung ließ alles sogleich wieder erstarren. »Und dann gibt es einige«, fuhr er unbeeindruckt fort, »deren Frequenz so niedrig ist wie die des Mannes, der gerade gepfiffen hat.«
Nervöses Gelächter und dann Stille. Jetzt hatte er sie. Und in den nächsten sechzig Minuten ließ er sie keinen Augenblick los. Jeder einzelne dieser neuntausend Menschen war ganz und gar auf Prok konzentriert, diesen hoch aufgerichteten Mann am Rednerpult, diese Berühmtheit, diesen Reformer und Pionier des Sex, diesen Prediger und Magier. Ich saß zwischen Mac und Corcoran, und obgleich ich den Vortrag schon so oft gehört hatte, daß ich ihn auswendig hätte aufsagen können, bis hin zu den Statistiken und den bedeutungsschweren Pausen, jagte mir die Eindringlichkeit von Proks Worten in dieser Umgebung einen Schauer über den Rücken. Dies war der Höhepunkt, der Augenblick der Herrlichkeit: Prok auf dem Gipfel. Die Studenten hielten den Atem an, die Professorenfrauen beugten sich vor. Es war kein Laut zu hören, kein Husten, kein Murmeln. Niemand rührte sich, niemand verließ die Halle. Prok schloß wie immer mit einem Appell an die Toleranz, trat einen Schritt zurück und dankte dem Publikum mit einem Nicken – es war keine Verbeugung, aber es hatte dieselbe Wirkung.
Und oh, wie sie brüllten. Wie sie brüllten.
9
Zurück in Bloomington, stellte ich fest, daß Elster zum offiziel- len Bibliothekar des Instituts befördert worden war und Iris wieder Klarinette spielte. Der hohle, wehmütige Klang dieses Instruments begrüßte mich, als ich auf mein Heim zuging und den Zustand von Haus und Hof begutachtete. Der Wagen (ich hatte ihn ihr dagelassen, Corcoran hatte mich hier abgesetzt) war wegen eines platten Reifens vorn links seitlich abgesackt, und die hintere Stoßstange hatte eine frische Beule. Es war still und kalt, die Luft war klar, und so drangen die Klarinettenklänge von tief drinnen im Haus bis zu mir, und ich brauchte einen Augenblick, bis ich wußte, was das war – zunächst hatte ich gedacht, hinter dem Werkzeugschuppen liege irgendein verletztes Tier im Todeskampf. Aber nein, es war Iris. Sie spielte auf dem Instrument, das all die Jahre unberührt in dem mit Samt ausgeschlagenen, kleinen schwarzen Kasten in der rechten unteren Schublade der Frisierkommode gelegen hatte.
Stell dir vor, dachte ich und mehr auch nicht. Mit dem Wagen konnte man nicht fahren, auf dem Weg zur Vordertreppe sah ich ein halbes Dutzend weiterer Versäumnisse, aber das alles ließ mich weitgehend kalt. Es war mir egal. Von mir aus konnte das Haus einstürzen und der Wagen in Flammen aufgehen – ich war müde, durch und durch müde, und ich konnte unmöglich weiter mit Prok herumreisen und dann übergangslos in der Rolle des treusorgenden Mannes aufgehen wie diese smarten, unerschütterlichen Väter, die uns heutzutage aus dem Fernsehen entgegengrinsen.
Als ich eintrat, sprang John junior aus seinem Haufen Spielzeug auf, rannte zu mir und schlang mir die Arme um die Knie, und ich stellte den Koffer ab, hob ihn hoch in die Luft und begrüßte ihn mit einem Kuß. Iris saß mit dem Rücken zu mir auf dem Sofa vor dem Kamm (wenigstens hatte sie ein Feuer gemacht, allerdings mit dem falschen Holz, nämlich mit den Spänen, die ich zum Anmachen beiseite gelegt hatte – ich hatte sie mindestens hundertmal gebeten, sparsam damit umzugehen), sie hatte die Beine ausgestreckt und das Mundstück zwischen den Lippen. Die Töne, die sie erzeugte, waren tief und klagend, dumpfe, dunkle Schwingungen, die mich an die Frachter denken ließen, die sich durch den Nebel über dem Michigansee schoben. Mit einem Mal fühlte ich mich niedergeschlagen. Da saß
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