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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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sie, mit ausgestreckten Beinen, aufgeblähten Wangen und unordentlichem Haar – Iris, meine Iris, und sie hätte irgendeine Frau sein können, ein Mitglied einer Marschkapelle, ein Wunderkind an Beharrlichkeit und Verlangen, auf ein Ziel hinarbeitend, das ich nicht einmal kannte. Bevor ich meinen Sohn absetzte (sanft, ganz sanft – die kleinen Hände grapschten, der Teppich war mit einem Mal ganz nah) und ihren Namen sagte, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, daß ich dabei war, sie zu verlieren. Oder nein: daß ich sie bereits verloren hatte.
    »Iris«, sagte ich, »Iris, ich bin’s.« Sie zuckte zusammen, drehte sich um und setzte die Klarinette ab, an deren Mundstück ein langer Speichelfaden hing. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Dann lächelte sie, und ich sagte: »Spielst du wieder Klarinette?«
    »Komm«, sagte sie, und ich setzte mich neben sie. Wir küßten uns, John junior kletterte auf meinen Schoß, und der Kater erschien und sprang auf die Sessellehne. Es war ein Augenblick der Freude – die Heimkehr des Helden –, und ich fühlte, daß meine Niedergeschlagenheit nachließ. Wir spürten diesem Augenblick noch eine Weile nach und sagten die üblichen Dinge, und ich erzählte ihr von den Höhepunkten der Reise, von meiner Angst in San Quentin, von Proks meisterlichem Auftritt, und wir tranken etwas, und ich gab John junior die Schachtel Karamelpopcorn und holte die lackierte Nautilusmuschel, die ich in einem Andenkenladen am Strand für Iris gekauft hatte, und dann, nach einem kurzen Schweigen, kam ich auf das Thema Klarinette zurück.
    »Und warum hast du wieder angefangen zu spielen?«
    Iris sah mich über den Rand ihres Glases an. Sie hatte sich einen Gin Tonic gemixt, obgleich es kalt war und noch für eine Weile kalt bleiben würde. Das Instrument lehnte an ihrer Schulter, Mundstück und Rohrblatt schimmerten feucht, die Klappen glänzten, der lange, schwarze Korpus lag wie ein Schatten auf ihrem Arm.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie und zuckte die Schultern. »Einfach, um irgendwas zu tun. Du weißt schon: um die Zeit herumzubringen.«
Es lag ein leiser Vorwurf darin, ein Anklang an vergangene Streite, und in mir wallte Wut auf. »Der Wagen hat einen Platten. Du bist doch nicht etwa damit gefahren, oder? Sag mir, daß du nicht mit einem Platten gefahren bist.«
Sie ignorierte meine Frage. Das Glas wurde zum Mund geführt und wieder abgesetzt. »Und wegen Hilda. Sie hat mir zugeredet – sie spielt ja auch, und wir üben ein Duett ein, das wir nächstes Frühjahr, vielleicht beim Picknick am Memorial Day, spielen wollen, nur wir beide. Ich hätte nicht gedacht, daß ich meinen Ansatz wiederfinden würde, aber ich hab ihn noch.« Das Feuer seufzte und fiel in sich zusammen, denn was da brannte, waren nur Zweige und nicht die sorgfältig gespaltenen Eichenscheite, die im Holzschuppen, keine zwanzig Meter von hier, gestapelt waren. »Ich wollte dich überraschen.«
»Ich wußte gar nicht, daß Hilda Klarinette spielt.« Ich versuchte, mir Rutledges Frau, die eckige, zartblonde Hilda mit den gespitzten Lippen und den kleinen, hohen Brüsten vorzustellen, wie sie auf der Stuhlkante vor dem Notenständer saß und die Lippen um das Instrument schloß.
»Während ihres ganzen Studiums. Wie ich.« Sie strich mit dem Daumen über die glänzende Oberfläche des Rohrblatts. »Irgendwas müssen wir ja tun, wenn unsere Männer die ganze Zeit weg sind.«
»Oscar war hier.«
»Ja«, sagte sie. »Stimmt. Aber du nicht.«
John junior, der zu seinem Spielzeug zurückgekehrt war, hob den Kopf und verkündete, er sei hungrig. »Mommy, ich hab Hunger«, krähte er, als hätte er soeben eine fundamentale Wahrheit über das Wesen des Seins im allgemeinen und sich selbst im besonderen entdeckt.
»Vielleicht sollten wir irgendwo essen gehen«, schlug ich vor.
Iris sah mich an. »Können wir uns das leisten?«
»Irgendwas Einfaches. Hamburger. Oder Pizza.«
»Pizza!« schrie John junior und nahm das Wort freudig auf. »Pizza!«
»Still«, sagte sie. Er hatte sich auf ihre Beine geworfen und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. »Ich kann doch schnell etwas kochen. Wir brauchen nicht groß zu feiern. Ich meine, du fährst weg, du kommst zurück – ist doch alles wie immer.«
Dazu hatte ich nichts zu sagen. Wir saßen da und schwiegen, während John junior an ihrer Bluse zerrte und quengelte: »Bitte, Mommy, bitte.«
»Ich muß mich umziehen«, sagte sie. »Und mich ein bißchen zurechtmachen. Und ich

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