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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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dem dünnen Strich des Schnurrbarts um das Mundstück der Zigarette geschlossen. »Ja«, sagte er, »ich weiß, was du meinst. Aber irgendwas ist da im Busch. Es sind nur wir eingeladen. Und unsere Frauen.«
    »Nur wir? Das ist wirklich seltsam. Soviel ich weiß, hat Prok noch nie einen musikalischen Abend veranstaltet, bei dem nicht zwanzig bis dreißig Gäste versammelt gewesen wären. Darum geht es ihm ja: Er will die Leute bilden.«
    »Und angeben.«
    Das brachte die Unterhaltung zum Stillstand. Ich war nicht gewillt, mir Kritik an Prok anzuhören, insbesondere nicht von einem Kollegen, und ich warf ihm einen warnenden Blick zu.
    Rutledge zuckte die Schultern, sah verstohlen den Korridor hinauf und hinunter und beugte sich dann zu mir. »Hör mal, John, Loyalität ist eine schöne Sache, versteh mich nicht falsch, aber er ist nicht über jede Kritik erhaben. Manchmal kann er ein ganz schön aufgeblasenes Arschloch sein mit seinem obligato und seinem menuetto und largo
    e cantabile und dem ganzen Scheiß, und dann dieser Gesichtsausdruck, derselbe Gesichtsausdruck, den er hat, wenn er kommt: wie der reuige Sünder am Kreuz.«
    Ich hatte das Gefühl, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. »Hör zu, Rutledge ... Oscar ...« sagte ich, und meine Stimme war kalt, »ich muß dir sagen, daß mir solche Kritik an Prok oder übles Gerede über ihn gegen den Strich geht, das ist einfach so, tut mir leid, also behalt so was in Zukunft bitte für dich –«
    »Aber du hast es doch selbst gesehen. Du hast diesen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen. Du warst doch einer von denen, die er so angesehen hat, oder nicht? Na also – ich auch. Das gehört zum Job, stimmt’s?«
»Nein«, sagte ich. »Nein, ich will nicht darüber sprechen.« Er sah mich noch immer an, er sah mir in die Augen, als wäre er dabei, meine Geschichte aufzuzeichnen. »Und Ted natürlich. Ted wird auch dasein«, sagte er. »Mit seiner Kamera.«
    Der Sonntag kam, windgepeitscht und von einer fahlen Märzsonne beschienen, die bessere Zeiten versprach. Krokusse blühten, Weidenkätzchen, Azaleen. Die Leute harkten den Rasen in ihrem Garten und überlegten, wo sie die Hängematte aufhängen würden, und die Studenten waren überall, sie bevölkerten in Grüppchen von dreien oder vieren die Bürgersteige, die Jacketts offen, und sie grinsten und alberten und riefen einander lockere Sprüche zu, als wäre es schon Mai, als wäre es Juni und die Prüfungen wären vorbei. Es war das richtige Wetter, um Drachen steigen zu lassen, und obwohl das bei mir zwanzig Jahre her war, hatten Iris und ich in einem Billigladen einen Papierdrachen gekauft und gingen mit John junior in den Park, um ihn steigen zu lassen. Alles war gut. Doch davor hatten wir etwas noch Ungewöhnlicheres getan, und ich wußte nicht, wie ich das fand oder was es zu bedeuten hatte. Wir waren in die Kirche gegangen. Es war Sonntag, und wir gingen in die Kirche.
    Iris war katholisch erzogen worden, hatte sich jedoch im Verlauf ihres Studiums immer weiter von der Kirche entfernt, und was mich betraf, so hatte ich weder den Glauben noch sah ich irgendeinen Grund, einer kirchlichen Organisation, ganz gleich welcher Richtung, beizutreten. Doch Iris erwachte an diesem Morgen mit der fixen Idee: Wir würden in die Kirche gehen, weil Frühling war und weil sie das Ritual der Messe und das lateinische Gemurmel und den seit unvordenklichen Zeiten dazugehörigen Geruch des Weihrauchs vermißte – und ich konnte es ihr nicht ausreden. Ich will nicht behaupten, daß sie in die Kindheit regredierte, denn das wäre nicht gerecht, aber dennoch – sie hatte begonnen, ihrer Mutter beinahe täglich zu schreiben, und ich hatte keinen Schimmer, was in diesen Briefen stand, und sie hatte wieder angefangen, Klarinette zu spielen ... und zu backen. Sie hatte mir erzählt, daß sie als Kind sehr gern gebacken hatte. Und jetzt, beim Frühstück – pochierte Eier, genau wie ich sie mochte, magerer gebratener Speck und grobe, krümelige Stücke selbstgebackenes Brot, das nicht aufgegangen war –, verkündete sie, daß wir in die Kirche gehen würden. Die ganze Familie.
    »In die Kirche?« sagte ich.
»Genau.«
»Aber warum? Was denkst du dir? Du weißt genau, daß ich nicht ...
    Meinst du nicht, daß ich an meinem freien Tag Besseres zu tun habe?« »Weil es mir fehlt, darum. Sollte das nicht ein ausreichender Grund sein? Kannst du nicht mal etwas für mich tun, nur für mich, nur ein einziges Mal? Und für John

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