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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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junior?« Wir saßen am Küchentisch, und der erwähnte Junge war inzwischen beinahe vier. Er hockte auf der Kante seines Kinderstuhls und verwandelte sein eigenes Ei in eine Art Rührei. Iris hielt inne, um ihm den fröhlichen gelben Fleck vom Kinn zu wischen, und wandte sich wieder zu mir. »Er wächst wie ein Heide auf. Stört dich das denn nicht?«
»Nein«, sagte ich, »kein bißchen.«
»Weißt du eigentlich, was die anderen Mütter sagen? Oder die anderen Kinder?«
Es wäre sinnlos gewesen, sie darauf hinzuweisen, daß es mich nicht im geringsten interessierte, was die anderen Mütter sagten, oder daß Prok einen Anfall bekommen würde, wenn er erfuhr, daß ich auch nur in der Nähe einer Kirche, eines Tempels, eines Tabernakels oder einer Moschee gewesen war – er haßte sie alle, er haßte alle Religionen unterschiedslos mit derselben Inbrunst. Religion war die Negierung der Wissenschaft. Religiöse Menschen waren nicht imstande, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Sie lebten im Mittelalter und so weiter. Ich stimmte ihm vollkommen zu, aber Iris wollte in die Kirche gehen, und das war alles, was zählte.
Ich würde sagen, die Erfahrung war, vom soziokulturellen Standpunkt aus betrachtet, einigermaßen interessant. Die Frauen hatten ihre Köpfe bedeckt – die meisten trugen Frühlingshüte, doch etliche hatten sich auch nur ein weißes oder schwarzes Kopftuch umgebunden –, und die Männer und Kinder hatten zu Ehren des Gottes, den sie anbeteten, ihre besten Kleider angezogen. Der Geruch, von dem Iris gesprochen hatte, lag in der Luft – es war irgendein Kraut oder Harz, das auf glühenden Kohlen verbrannt wurde, zweifellos eine Sitte aus den Zeiten, da die Gläubigen weitgehend ungewaschen waren und man dachte, Krankheiten würden durch den Gestank schlechter Luft übertragen –, und vor uns entfaltete sich mit allem Pomp ein Ritual, dem Iris mit so schlichten Gesten folgte, daß ich gerührt war, mehr als ich zugeben wollte. Ich sah sie niederknien, sah, wie sie sich bekreuzigte, die Finger in das Weihwasserbecken tauchte und in stummer Andacht die Lippen zu den Worten des Priesters bewegte, während neben ihr John junior quengelte und zappelte und sie sich zu ihm beugte, um ihn zu ermahnen. Auf eine Art war die ganze Veranstaltung recht schön – nicht daß es irgend etwas bedeutet hätte, und wir sind seitdem auch nicht mehr in der Kirche gewesen (jedenfalls ich nicht), aber es war ein wenig wie in einem Konzert: Man konnte den Geist leeren und die Gedanken schweifen lassen, wohin sie wollten.
Ja, und dann gingen wir in den Park, und John junior freute sich, endlich frei zu sein, und rannte herum wie ein junger Hund, den man von der Leine gelassen hat, und dann machten wir ein Picknick, obwohl der Wind sich bemerkbar machte, sobald die Sonne hinter Wolken verschwand, was sie während des ganzen Nachmittags immer wieder tat. Wir hatten einen Kastendrachen gekauft und zu Hause zusammengebaut, trotz der Tatsache, daß das Lesen und Umsetzen von Bauanleitungen nicht meine starke Seite ist, und als ich losrannte und der Drachen über mir tanzte, stieß mein Sohn einen Schrei reinster, elementarer Freude aus. Ich ließ den Drachen höher steigen und spürte den Zug am anderen Ende der Schnur, und ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß dieses Gefühl mich in meine Kindheit zurückversetzte. »Ich will«, rief mein Sohn. »Gib mir, Daddy. Ich, ich!« Und ich setzte mich ins Gras und nahm John junior auf den Schoß, und gemeinsam hielten wir die Drachenschnur.
Möglicherweise war das der Tag, an dem ihm der Drachen davonflog, aber vielleicht war das auch an einem anderen Tag in einem anderen Jahr. Ich weiß nur noch, daß ich ihn den Drachen allein halten ließ, damit er diesen mysteriösen Zug der höheren Sphären spürte und meisterte, und er rannte los, kicherte wie verrückt, gab dem Drachen Schnur und wurde immer kühner – und das war gut, das war sehr gut –, bis keine Schnur mehr da war. Bevor ich bei ihm war, bevor ich hinzuspringen und das Ende packen konnte, war der Drachen schon fort und stieg, die durchhängende Schnur hinter sich herzie hend, in den Himmel auf, als gehörte er nicht zu uns.
Und dann gab es Abendessen, den Truthahn, den Iris vor unserem Aufbruch in den Ofen geschoben hatte. Als wir eintraten, hing der Bratenduft schwer in der Luft. Ich machte ein Feuer im Kamin, um die Kälte aus Fingern und Zehen zu vertreiben. Dann gaben wir John junior bei der Babysitterin ab – Ob es

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