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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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und trug einen sehr schmalen, penibel gepflegten Schnurrbart á la Ronald Colman, doch ebenso wie seine Haare war dieses Bärtchen so bleich und verwaschen, daß man es selbst aus der Nähe kaum sah. Er hatte blaue Augen, und auch sie waren blaß, fast durchscheinend. Außerdem hatte er zwei Ohren, eine Nase, einen Mund, ein Kinn und zwei dünne, farblose Lippen, die er stets zusammenzupressen schien, wahrscheinlich weil er einen Überbiß hatte. Was gibt es sonst noch über ihn zu sagen? Seine Eltern waren Engländer aus Yorkshire, und er liebte Schach, Lucky Strikes, den »Lone Ranger« und natürlich Betsy. Mit der er aufs Ganze gegangen war, obgleich sie noch gar nicht verheiratet waren – oder vielmehr: mit der er andauernd aufs Ganze ging. Woher ich das wußte? Er hatte es – den Koitus mit Betsy – so detailliert beschrieben, daß Prok hochzufrieden gewesen wäre, wenn ich Paul nur dazu hätte bringen können, sich befragen zu lassen.
    Abends blieb ich lange wach und wartete auf ihn, damit wir im Dunkeln rauchend auf unseren Betten liegen und er mir mit leiser, belegter Stimme schildern konnte, wie er sie im Heizkraftwerk der Uni an die Wand gedrückt oder sich bei voll aufgedrehter Heizung auf dem Rücksitz eines geliehenen Wagens auf sie gelegt hatte und wie willig sie war, wie scharf, und daß Betsy, damit es schneller ging, nur noch Röcke trug, keine Unterwäsche, und daß sie beide es kaum erwarten konnten zu heiraten, damit sie es im Bett tun konnten, auf Laken und unter Decken, und keine Angst vor der Polizei oder dem Nachtwächter oder sonst irgend jemandem haben mußten ...
    »Aber warum sollte ich?« sagte er. »Warum sollte ich eineinhalb oder gar zwei Stunden damit verplempern, mit einem Mann zu reden, den ich noch nie gesehen habe und vielleicht nicht mal mag? Was soll mir das bringen?«
    »Dir vielleicht nichts, aber der Wissenschaft«, antwortete ich, »dem Fortschritt der Wissenschaft. Hast du mal darüber nachgedacht, daß du dich, wenn es mehr Menschen wie Dr. Kinsey gäbe, nicht heimlich mit deiner Verlobten ins Heizkraftwerk schleichen müßtest, weil man dann nämlich voreheliche sexuelle Beziehungen dulden, ja sogar befürworten würde?«
    Er schwieg einen Augenblick. Vor dem Fenster war es grau geworden, und ich stand auf und schaltete das Licht an, wickelte mich dann in meine Decke und legte mich wieder aufs Bett. Schatten nisteten in den Ecken. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Es ist einfach zu persönlich.«
    »Zu persönlich?« Ich traute meinen Ohren nicht. »Wie kannst du das ausgerechnet zu mir sagen? Immerhin erzählst du mir in allen Einzelheiten, was du und Betsy an sieben Abenden die Woche treibt, ob ich es nun hören will oder nicht.«
    »Ach«, sagte er, und seine Hand hob und senkte sich unter der Bettdecke wie eine pulsierende Ader, »du bist ein trauriger Fall. Du weißt nicht mal, wie das ist, stimmt’s ? Du warst zwar in diesem Ehekurs, aber trotzdem hast du keine Ahnung, wie schön es ist, wie wild und schön, und ich schätze, ich werde dir ein bißchen helfen müssen, damit du bei – wie heißt sie noch? Iris? – zu deinem ersten Schuß kommst.«
    »Ach, leck mich doch! Ich finde das unmöglich, wirklich. Nur weil du mit Betsy so ein Schwein hast, ich meine, nur weil du eine gefunden hast, die nicht –«
    »Ist ja gut«, sagte er. »Jetzt komm mal nicht ins Schwitzen. Ich mach’s. Okay? Bist du jetzt zufrieden?«
Es dauerte einen Augenblick, bis ich diese Auskunft verarbeitet hatte. Der Atem verdichtete sich vor meinem Gesicht, die Decke schmiegte sich an meinen Hals. »Ja«, sagte ich schließlich und versuchte, trotz allem versöhnt zu klingen, aber er hatte mich wirklich gekränkt: Ich war unerfahren, das wußte ich ja, aber war das ein Verbrechen? Mußte er mir das unter die Nase reiben? Glaubte er etwa, daß ich mir Liebe – Liebe und Sex – nicht ebensosehr wünschte wie jeder andere?
Er dachte nach und kickte mit den Füßen das untere Ende der Bettdecke zurecht, damit es sich enger um seine bestrumpften Füße legte. Zwei Finger strichen über den Schatten seines Bärtchens. »Also, was muß ich jetzt tun? Legst du eine Liste an oder was?«
Ich stand auf, zog die Decke hinter mir her, trat an den Schreibtisch und schlug mein Notizbuch auf. »Ich habe hier seine freien Termine«, sagte ich.
    Der Monat war noch nicht zu Ende, da war ich von der bibliothekarischen Hilfskraft zum persönlichen Assistenten von Dr. Alfred C. Kinsey, Professor für

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