Dr. Sex
Aspekten zu betrachten, war er zu einem radikal unreligiösen Menschen geworden, der demonstrativ in seinem Garten arbeitete, während der Rest von Bloomington in der Kirche saß. Gegen Ende des Monats war es so warm, daß er das in Shorts und mit nacktem Oberkörper erledigen konnte, und er ermunterte mich, es ihm gleichzutun. Im Frühsommer und Sommer schließlich waren wir bei der Gartenarbeit so leicht bekleidet, wie es gerade noch vertretbar war – aber ich greife vor.
Ich weiß noch genau, daß dieser Monat eine Zeit war, in der ich mich mit mir selbst so sehr im reinen fühlte wie schon lange nicht mehr – sofern ich dieses Gefühl überhaupt kannte. Das lag an Proks ständiger Aufmerksamkeit, an seinen sanften Ermunterungen, sei- nen Instruktionen, an dem Gefühl der Verbundenheit, wenn wir uns, jeder an seinem Tisch, schweigend über die Arbeit beugten, in dem Wissen, daß wir im Begriff waren, etwas Erregendes, Revolutionäres zu tun. Wir unternahmen Wanderungen – er und Mac gingen mit den Kindern und mir zum Lake Monroe, zu den Bluesprings-Höhlen, zum Clear Creek, wir machten Spaziergänge durch die Felder und Waldstücke hinter ihrem Haus, wobei Prok die ganze Zeit über die Geologie der Landschaft dozierte, über die Gräser und Wildblumen, die auf den Lichtungen sprossen, und über die Zugvögel, die nach und nach zurückkehrten –, und ich erinnere mich an den Frieden und die Geborgenheit, wenn wir gemeinsam zu Abend aßen und vor dem Kamin saßen. Es war einfach gut dort, in ihrer Gesellschaft. Mac kochte eine Portion mehr, wenn ich im Garten arbeitete oder wir von einem unserer Ausflüge zurückkehrten, und je heftiger ich protestierte, ich wolle ihnen nicht zur Last fallen und ihre Gastfreundschaft strapazieren, desto herzlicher bemühten sich beide, mich in diesem Punkt zu beruhigen. Schließlich verbrachte ich mehr Zeit bei den Kinseys als im Haus von Mrs. Lorber, und Paul, der in den vergangenen drei Jahren mein Fels in der Brandung, mein bester Freund gewesen war, sagte im Scherz, er bekomme mich nur noch zu sehen, wenn ich schlief. Er hatte Betsy, und ich hatte Prok und Mac. Daß wir uns voneinander entfernten, war unvermeidlich.
Irgendwann in dieser Zeit tat ich etwas, worauf ich nicht besonders stolz bin, wovon ich aber hier berichten will, um Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen beziehungsweise erst gar keine aufkommen zu lassen. Welchen Sinn hätte sonst diese Übung, diese Beschwörung vergangener Zeiten, wenn ich nicht vollkommen aufrichtig wäre? Ich habe nichts zu verbergen. Heute bin ich ein anderer Mensch als der Student, der damals an diesem Ehekurs teilnahm, und um nichts in der Welt würde ich irgend etwas von dem, was geschehen ist, ändern wollen.
Jedenfalls war ich ein gelehriger Schüler. Puzzles und Geheimschriften hatten mir schon immer Spaß gemacht, und Proks Code lernte ich in Rekordzeit. Es dauerte zwei oder drei Wochen, und ich konnte ihn auswendig. Eines Nachmittags – es war mitten in der Woche, und Prok war nach Indianapolis gefahren, um vor dem Kollegium einer Privatschule über die Möglichkeiten der Triebbefriedigung für unter Dampf stehende Jugendliche zu sprechen und, wie nicht anders zu erwarten, möglichst viele Interviews mit Lehrern und Schülern zu führen –, eines Nachmittags also war ich allein im Büro und transkribierte verschlüsselte Lebensgeschichten von Proks Notizzetteln auf größere Formate, die für die Unterlagen bestimmt waren, damit wir die Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen für die statistische Analyse berechnen konnten. (Ein nach Proks System verschlüsselter Bogen Papier enthielt so viele Informationen wie zwanzig Seiten Notat; diese mußten natürlich irgendwann ausgewertet werden. Anfangs geschah das per Hand, später, als wir unsere Hollerith-Maschine hatten, mit Hilfe von Lochkarten.) Zunächst erschien mir diese Arbeit faszinierend – immerhin ging es um Sex –, doch an diesem Tag hatte ich es mit Geschichten von männlichen Studienanfängern zu tun, und diese unterschieden sich nicht sonderlich von denen der Hundert-Prozent-Gruppe, die ich in meiner Studentenpension hatte mobilisieren können. Ich war einigermaßen gelangweilt. Da war die Rede von (nicht sehr weit gehenden) Experimenten mit anderen Jungen oder Farmtieren und von heimlicher Masturbation. Es gab recht wenige koitale Erfahrungen, aber eine gute Portion Petting, Zungenküsse und (ebenfalls zaghafte) Versuche oral-genitaler Befriedigung. Meine
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