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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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war zwanzig und hatte unreine Haut, blondes Haar und einen welken Pagenschnitt – sah mich an, als wäre ich gekommen, um jede einzelne Studentin in diesem Haus zu schänden. »Hallo«, sagte ich und ging entschlossen auf sie zu, bemüht, den Schwung nicht zu verlieren, denn jetzt kam es darauf an. »Ich wollte nur wissen, ob Iris McAuliffe ... äh ... zufällig da ist. Wenn sie schon auf ist, meine ich.«
Sie sah mich entsetzt an, ihre Gesichtszüge waren auf das Wesentliche reduziert.
»Ich heiße John«, sagte ich. »John Milk. Würden Sie ihr sagen, daß ich da bin? Bitte?«
»Sie ist nicht da.«
»Was heißt, sie ist nicht da? An einem Samstagmorgen? Um acht Uhr?«
Doch sie war nicht auskunftsfreudig. Nach einem tiefen Seufzer, als würde ich jeden Morgen meines Lebens in der Eingangshalle des Wohnheims stehen und ihr auf die Nerven gehen, wiederholte sie:
»Sie ist nicht da.«
Ich sah zu der Tür am Ende der Halle, dem Eingang zum geheiligten Bezirk, und in diesem Augenblick schwang sie auf, und zwei Studentinnen traten heraus, knöpften ihre Mäntel zu und setzten die Hüte auf, bevor sie sich in die eiserne Umarmung des Morgens begaben. Sie musterten mich amüsiert – welcher halbwegs normale Mann würde sich um diese Uhrzeit verabreden? – und gingen unter heftigem Gekicher hinaus. »Na gut«, sagte ich und entschied mich für den Weg des Feiglings, »kann ich ihr eine Nachricht hinterlassen?«
Doch jetzt saß ich bei Prok vor dem Kamin und erklärte mich bereit, den ersten entschlossenen Schritt in eine Karriere als Sexforscher zu tun. Wer hätte das gedacht? Wer hätte geahnt, daß es so etwas überhaupt gab? Fragen Sie einen Jungen, was er mal werden will, und er wird sagen: Cowboy, Feuerwehrmann, Polizist. Fragen Sie einen Studenten, und er wird sagen: Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer, Betriebswirtschaftler oder Ingenieur. Keiner sagt Sexforscher.
Ich sah Prok zu, wie er an seinem Flickenteppich arbeitete und einen fünfzehn Zentimeter langen Stoffstreifen festzog und mit ande- ren verwob. Das Ding lag jetzt wie ein Rock auf seinen ausgestreckten Beinen. Er sprach über seine H-Geschichten und erzählte, wie er allein zum Gefängnis in Putnamville gefahren war und die Geschichten der Insassen aufgezeichnet hatte – »Und es waren sehr umfangreiche Geschichten, John, das kann ich Ihnen versichern« – und wie einer der Häftlinge ihm angeboten hatte, ihn in die homosexuelle Unterwelt von Chicago einzuführen. Und diese H-Geschichten waren wichtig: Für die Einschätzung des Gesamtbilds waren sie, wie mir zweifellos klar war, ebenso unerläßlich wie die heterosexuellen Geschichten. Dann hielt er einen Moment inne, um es mir zu erklären, und seine Augen suchten die meinen und hielten sie mit dem unverwandten Blick fest, den er vermutlich durch stundenlanges Anstarren des eigenen Spiegelbilds geübt hatte. Er sprach leiser, gedämpfter. »Damit will ich sagen, daß Sie, John, bestimmt ein besonderes Inter esse an diesem Thema haben ...«
Vielleicht errötete ich. Ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich an seine Umarmung. Wir standen an der Tür, er dankte mir für mein Kommen, den Käse sowie meine Diskussionsbeiträge und gab mir noch allerlei proktypische Ratschläge und Ermahnungen im Hinblick auf die Kälte, vereiste Straßen, schlechte Autofahrer und dergleichen mit auf den Weg. »Gute Nacht, Milk«, sagte er, nahm mich in die Arme und drückte mich an sich, und ich spürte das Spiel seiner Muskeln und die Wärme seines Körpers, ich roch sein Haaröl, seinen Duft, die heiße, verführerische Einladung seines Atems.
Er ließ mich los. Die Tür schloß sich. Ich ging hinaus in die Dunkelheit.
3
    »Also, Paul, du mußt mir das noch mal erklären, denn irgendwas hab ich hier nicht verstanden. Du hast was gegen wissenschaftliche Forschung, stimmt’s? Gegen das Sammeln von Daten? Ehrlich, ich versteh’s nicht.«
    Wir waren in unserem Zimmer, der Tag verabschiedete sich mit den letzten fahlen Strahlen einer trüben Sonne, und wir wollten gleich zum Abendessen in die Mensa gehen. Es war kalt. Und zwar nicht nur draußen: Mrs. Lorber schien die Heizung auf Sparflamme gestellt zu haben. Paul – mir wird gerade bewußt, daß ich ihn noch gar nicht beschrieben habe, und ich hoffe, Sie verzeihen mir das, denn auf diesem Gebiet bin ich ein Neuling –, Paul also lag diagonal auf seinem ungemachten Bett, den Kopf an die Wand gelehnt, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Er war beinahe ein Jahr älter als ich

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