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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Predigten darauf hinweisen. Bedenken Sie, Milk, bedenken Sie den Schaden durch die sexuelle Unterdrückung und die Schuldgefühle, unter denen normale, gesunde Heranwachsende vollkommen sinnlos zu leiden haben ...« Hier dachte ich an unser Interview und muß wohl errötet sein, denn plötzlich änderte er die Taktik und fragte mich geradeheraus, ob ich bereit sei, zu seinem Projekt beizutragen.
»Tja, na ja, ich meine ... Natürlich würde ich ...« stammelte ich und versuchte mich zu fassen. »Aber wie könnte ich tatsächlich etwas dazu beitragen?«
»Ganz einfach«, sagte er und setzte sich bequemer hin. »Sprechen Sie mit den anderen Studenten in Ihrer Pension – vierzehn sind es, nicht wahr?«
»Stimmt«, sagte ich. »Ja. Vierzehn.«
»Sprechen Sie mit ihnen und überzeugen Sie sie, in mein Büro zu kommen und mir ihre persönliche Sexualgeschichte zu erzählen. Sie haben da eine potentielle Hundert-Prozent-Gruppe, John, ist Ihnen das eigentlich klar?«
Ich war kein besonders geselliger Typ und bei dem Gedanken daran wurde mir mulmig, doch ich stellte fest, daß ich zustimmend nickte, denn, wie gesagt, ihm schlug niemand etwas ab.
Aber noch während ich dort saß und mit ihm Pläne schmiedete wie ein Lieblingssohn, spürte ich in den hinteren Winkeln meines Geistes, im Augenblick nur undeutlich zu erkennen, ein dumpfes, aber hartnäckiges Schuldgefühl gegenüber Iris. Ich war nicht nur wegen meiner Zweifel im Hinblick auf den Käse zu spät zu dieser Einladung gekommen, sondern auch, weil ich Iris – oder besser: die Iris-Situation – bis zum letzten Augenblick aufgeschoben hatte. Warum, weiß ich auch nicht – ich bin, normalerweise jedenfalls, kein Zauderer, sonst hätte ich wohl kaum die Leistungen bringen können, die ich auf der Schule und später bei Prok gebracht habe –, aber jedesmal, wenn ich daran dachte, daß ich Iris anrufen mußte, klopfte mein Herz so heftig, als stünde ich kurz vor einem Infarkt, bis mir schließlich bewußt wurde, daß ich sie sehen mußte, und sei es nur, um alles zu erklären und wieder ins Lot zu bringen. Ich wollte ja mit ihr ausgehen, unbedingt sogar, ich dachte in den seltsamsten Augenblicken an sie, ich sah sie vor mir, wie sie in der Bibliothek ausgesehen hatte oder an jenem Nachmittag bei meiner Mutter, als sie die Beine hatte baumeln lassen wie ein kleines Mädchen, als sie gestikuliert hatte, um irgendeinen Punkt zu unterstreichen, und ihre Augen bei irgendwelchen Themen – Parasiten, Poesie, die Not der Litauer – geschimmert hatten wie die Gischt eines Wasserfalls, doch je länger ich damit wartete, unsere Verabredung zu verschieben, desto schlimmer würde es werden. Schließlich kam der Samstag, und noch immer hatte ich nicht den Mut aufgebracht, zu ihr zu gehen. Ich erwachte bei Pauls brutalem, knarrendem Geschnarche, sah die graue Eisschicht auf der Fensterscheibe und dachte: Iris. Ich würde auf der Stelle zu ihrem Wohnheim gehen und sie zum Frühstück einladen, so daß ich ihr bei Spiegelei, Muffins und Kaffee in die Augen sehen und ihr sagen könnte, ich würde am kommenden Samstag mit ihr ausgehen, hundertprozentig, und ich freute mich darauf, es gebe nichts auf der Welt, was ich lieber täte (und vielleicht wollte sie heute abend mit einer Freundin ins Theater gehen, immerhin hätte ich die Karten ja schon besorgt), aber sie müsse verstehen, und es tue mir leid, mehr als leid, ich sei geradezu verzweifelt, und ob sie mir vergeben könne. Aber ich ging nicht zum Wohnheim. Es war noch zu früh. Sieben. Es war erst sieben oder kurz nach sieben, und es würde noch Stunden dauern, bis sie aufstand, oder jedenfalls redete ich mir das ein. Also nahm ich meine Bücher, frühstückte allein in der Mensa, las die ersten sechs Stanzen von Miltons Der Nachdenkliche, bis ich es nicht mehr aushielt (»Daher die trügerischen, eitlen Freuden / Die Brut der Torheit, vaterlos geboren«, und so weiter, und so weiter), aufsprang und hinausrannte, be vor ich noch wußte, was ich tat.
Vom Uhrenturm schlug es acht, die Kälte drang durch meine Schuhsohlen. Als ich mitten durch eine Baumgruppe und quer über den verdorrten braunen Rasenstreifen auf Iris’ Wohnheim zuging, stapfte einer von Laura Feeneys abgelegten Sportlern, ein Muskelberg mit Füßen wie Schneeschuhe, an mir vorbei zur Sporthalle. In der Eingangshalle des Wohnheims hing ein künstlicher Duft, als wäre ich irgendwie zum Coty-Stand bei Marshall Field’s versetzt worden, und die Rezeptionistin – sie

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