Dr. Sex
er ihre Geheimnisse ebenso kannte wie meine. Plötzlich durchzuckte mich die Erkenntnis, welche Macht dieses Wissen barg. Wer seine Geschichte preisgab, gab seine Seele preis, und der Besitz dieser Seele bedeutete die größtmögliche Erhöhung der eigenen Person – wie bei den Kannibalen, wo man durch den Geist eines jeden Opfers, das man sich einverleibt, an Größe gewinnt.
Beim Essen drehte sich das Gespräch ausschließlich um Sex. Prok erzählte von seinem Projekt: Analog zu der Methode, die es ihm erlaubte, Wespen anhand der Variationen innerhalb einer Spezies zu klassifizieren, wollte er eine Taxonomie des menschlichen Sexualverhaltens entwickeln. Wir aßen eine Art Eintopf – Prok bezeichnete ihn als »Gulasch«, er hatte ihn selbst zubereitet. Zum Essen gab es weder Bier noch Wein, sondern Milch, die Prok aus einem großen Glaskrug ausschenkte, wobei er einen seiner seltenen Versuche unternahm, witzig zu sein (»Noch etwas Milch, Milk?«). Wir saßen zu dritt am Tisch. Die Kinder hatten offenbar bereits gegessen, so daß wir, wie Prok sich ausdrückte, »einander kennenlernen« konnten, »ohne unsere Aufmerksamkeit aufteilen zu müssen«. Jedesmal, wenn Prok Luft holte, was nicht oft der Fall war, sagte Mac, was sie zu sagen hatte, und ich war überrascht, denn sie war kein bißchen weniger fachkundig und gleichermaßen imstande, Worte wie Cunnilingus oder Fellatio in das Tischgespräch einzustreuen.
Was mich betraf, so genoß ich die Aufmerksamkeit, die beide mir zuteil werden ließen. Ich hatte mich immer als Durchschnittsmenschen betrachtet, selbst als ich eine Bestnote nach der anderen bekommen hatte, selbst als es mir gelungen war, ein schon verloren geglaubtes Footballspiel herumzureißen, doch hier saßen zwei lebhafte, intelligente, welterfahrene Menschen – erwachsene Menschen –, die meine Meinung hören wollten und mich als ihresgleichen behandelten. Es stieg mir ein wenig zu Kopf, und ich wollte nie mehr von diesem Tisch aufstehen oder von dem Sofa vor dem Kamin, auf das wir uns nach dem Essen setzten. Dort löffelten wir Vanille-Eiscreme, während Prok mit hoher Stimme unermüdlich dozierte und Mac perfekte Maschen strickte. Es wurde neun, es wurde zehn. Irgendwann verschwand Mac, um sich davon zu überzeugen, daß die Kinder (zwei Mädchen von vierzehn und fünfzehn und ein zwölfjähriger Junge) auch wirklich im Bett waren, und für einen Augenblick fühlte ich mich unbehaglich. Ich sagte, es sei schon spät, doch Prok tat das mit einer Handbewegung ab. Er war keineswegs müde, im Gegenteil:
Er schaltete noch einen Gang höher.
Er schürte das Feuer, setzte sich mit dem Stoffstrang, aus dem er einen Teppich knüpfte, auf den Boden (»Sehr wirtschaftlich, Milk – sollten Sie auch machen. Sie können alle abgelegten Kleider, Laken, Stoffe und so weiter verarbeiten, dazu Streifen aus Musselin, die Sie färben können, wie Sie wollen, und Sie werden staunen, wie haltbar so ein Teppich ist. Zum Beispiel der hier, auf dem ich sitze: den hab ich 1921 gemacht, da war ich Assistenzprofessor, und wir haben in einer hübschen kleinen Mietwohnung gewohnt, unserer ersten gemeinsamen Wohnung nach der Hochzeit«) und offenbarte mir in der nur vom Knistern und Knacken des Feuers unterbrochenen Stille all seine Hoffnungen und Ambitionen hinsichtlich des Projekts. Zehntausend Befragungen mindestens, das war es, was er wollte, und um Genauigkeit zu gewährleisten, mußten diese Befragungen persönlich durchgeführt werden – er wollte sich nicht, wie andere Forscher vor ihm, auf Fragebögen oder subjektive Berichte verlassen. Nur so könnten wir (darin war der junge Neophyt, der vor ihm saß, bereits eingeschlossen) die Daten zusammentragen, die wir brauchten, um die bornierten Vorurteile, die schon das Leben so vieler Menschen ruiniert hatten, zum Teufel zu jagen. Beispiel Masturbation: Wußte ich, daß hochangesehene Leute – Ärzte, Priester und dergleichen – die ungeheuerliche Theorie vertraten, Masturbation führe zu Geisteskrankheit?
Er wandte sich zu mir, und das Feuer, das gerade ein Eichenscheit verzehrte, spiegelte sich zweimal in den Brillengläsern und legte sich über seine Augen. »Dabei ist die Masturbation ein natürliches und überaus harmloses Ventil für sexuelle Spannung, das unsere Spezies entwickelt hat. Es ist etwas durch und durch Positives, ein Segen für unsere Art und die Gesellschaft insgesamt, und glauben Sie mir: Jeder Pfarrer, der sein Geld wert ist, sollte in seinen
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