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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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ich sah vor meinem geistigen Auge, wie sie einander küßten und streichelten, wie sie hin und her rollten, im Zelt oder auf den Feldbetten in dem Sommerlager, wo sie im Juli und August jenes Jahres als Betreuer angestellt waren. Und dann waren sie wieder in ihrer ersten gemieteten Wohnung in Bloomington und hatten nichts als Frustrationen erlebt. Drei Monate nach der Hochzeit war Sex für sie noch immer ein Mysterium. Erst als ein kleiner chirurgischer Ein- griff bei Mac diese mißliche Lage beendete, konnten sie endlich den Koitus vollziehen. Prok war achtundzwanzig.
    Dieses Wissen – das ich mir aneignete wie ein Ägyptologe, der mühsam Hieroglyphen entzifferte und nach und nach allerlei über das Leben und die Gewohnheiten eines Pharaos aus längst vergange- ner Zeit erfuhr –, dieses Wissen also erfüllte mich mit widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits erschien mir mein Mentor irgendwie kleiner als zuvor: Er predigte, jedenfalls im privaten Rahmen, die sexuelle Befreiung, und dabei war er wie ich ein Gefangener überkommener Moralvorstellungen gewesen und hatte wie ich unter Schüchternheit, Unwissenheit und der Unfähigkeit zu handeln gelitten. Und doch gab seine Geschichte mir auch die Hoffnung, auf eine gespenstische Weise sogar die Gewißheit, daß meine eigene sexuelle Verwirrung irgendwann ein Ende haben würde.
    Aber da war noch mehr. Seine H-Geschichte, die wie meine mit jugendlichen Experimenten begonnen hatte, wurde zunehmend kom- plex. Der Zoologie-Professor, der hervorragende Wissenschaftler, neben dessen Namen im American Men of Science ein Stern prangte, der glücklich verheiratete Entomologe in mittleren Jahren, der Vater dreier Kinder mit dem nüchternen, sachlichen Habitus stieg auf der Skala von 0 bis 6 immer weiter auf, hatte im Verlauf langer Exkursionen Affären mit diversen Studenten und schließlich eine intensive und sehr enge Beziehung zu einem Studenten gehabt, der nicht viel älter war als ich. Was glauben Sie, wie ich mich fühlte? Und Mac, was war mit Mac?
    In meinen Adern brauste das Blut, und hätte an jenem Nachmittag jemand den Kopf durch die Tür gesteckt, so hätte er mein hochrotes Gesicht bemerkt. Mit gierigem Blick und zitternden Fingern blätterte ich die Seiten durch, dann schob ich Proks Ordner zurück in die Schublade und nahm mir Macs vor. Ihre Geschichte war umfangreicher, als ich gedacht hatte, und als die Symbole mir ihren Sinn enthüllten, stellte ich mir Mac unwillkürlich nackt vor, ihre Hände, ihre Lippen, ihren Gang, dieses gaumige Etwas in ihrer Stimme. Ich gebe zu, ich war erregt, und im nächsten Augenblick wollte ich schon nach Laura Feeneys Geschichte und nach der von Paul und Kinseys Kindern suchen – doch da besann ich mich. Was tat ich da? Es war voyeuristisch, es war falsch, es war ein Bruch des Vertrauens, das Prok mir entgegenbrachte. Ich war dabei, es der schäbigsten Art von Neugier zu opfern. Es war dunkel geworden, die Lampen gaben ein weiches Licht, die Gallen waren beschattet und surreal, und plötzlich schämte ich mich, ich schämte mich wie noch nie in meinem Leben. Ich konnte erst wieder frei atmen, als ich die Ordner in den Aktenschrank zurückgelegt und den Code eingeschlossen hatte. Die ganze Zeit lauschte ich auf Schritte im Korridor. Ich schaltete das Licht aus. Schloß das Büro ab. Und als ich auf den Korridor trat, schlug ich den Kragen hoch und wandte das Gesicht zur Wand, als wäre ich ein Krimineller.
    Am nächsten Tag war Prok zurück, berstend vor Energie. Er pfiff leise ein Hugo-Wolf-Lied und eilte mit raschen, abrupten Bewegungen, die sich wie eine Pantomime ausnahmen, im Büro hin und her: Er sprang vom Schreibtisch auf, setzte sich wieder, warf einen Blick in einen der Schmitt-Kästen, dann in die Aufzeichnungen, untersuchte flüchtig eine seit zwei Jahren inaktive Galle, in der plötzlich Larven geschlüpft waren, blickte durch das Mikroskop und rief: »Eine neue Art, Milk, ich glaube, ich habe hier eine ganz neue Art!« Als ich eingetreten war, hatte er mir, kaum daß ich mich gesetzt hatte, einen prallen Ordner auf den Tisch gelegt. »Achtzehn Geschichten.« Ein Grinsen. »Und sechsunddreißig weitere sind fest zugesagt. Ich war bis zwei Uhr morgens auf, um sie aufzuzeichnen.«
    »Wunderbar«, sagte ich und grinste ebenfalls.
»Gab’s in meiner Abwesenheit irgendwelche Schwierigkeiten?« Ich mühte mich, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen. Nicht
    wegsehen, befahl ich mir. Nicht. »Nein«, sagte ich und sah weg,

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