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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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»nein, es war alles in Ordnung.«
    Er sah mich forschend an. Ich klappte den Ordner auf, in der Hoffnung, ihn abzulenken, doch es funktionierte nicht. Ich glaube, es hat noch nie einen Menschen gegeben, der ein so feines Gespür für die Nuancen menschlichen Verhaltens hatte wie Prok, niemanden, der noch die kleinsten Regungen der Gesichtsmuskeln und all das, was wir heute Körpersprache nennen, so genau zu deuten vermochte. Ihm entging nichts. »Alles?« fragte er.
    In diesem Augenblick wollte ich ihm alles beichten, aber ich tat es nicht. Statt dessen murmelte ich eine Bestätigung und fragte, um das Thema zu wechseln: »Soll ich die hier gleich transkribieren?«
    Er schien geistesabwesend und antwortete zunächst nicht. Für sein Alter wirkte er jung – damals hielt man ihn meist für fünf bis zehn Jahre jünger, als er war –, doch in diesem Augenblick sah ich die Falten in seinem Gesicht, die ersten zart skizzierten Linien des fertigen Bildes, das er mit ins Grab nehmen würde. Er war gewiß erschöpft, dachte ich, er hatte sich verausgabt, um diese Geschichten aufzuzeichnen, er hatte die weite Reise in seinem klapprigen alten Nash gemacht, war spät zu Bett gegangen und früh aufgestanden und hatte niemanden gehabt, der ihm half. »Wissen Sie«, sagte er dann, und es war, als hätte er meine Gedanken gelesen, »ich habe darüber nachgedacht, wie praktisch, nein, wie unerläßlich es wäre, einen zweiten Interviewer auszubilden, eine Vertrauensperson, die mit mir zusammen Daten sammelt, jemanden, der nicht unbedingt eine wissenschaftliche Ausbildung hat, der sich aber in die von mir entwickelte Technik einarbeiten kann und bereit ist, sie unbedingt anzuwenden. Jemanden, der eine rasche Auffassungsgabe hat, John. Jemanden wie Sie.« Er hielt inne. »Was meinen Sie?«
    Ich war so überrascht und mit Schuldgefühlen wegen meiner Schnüffelei beladen, daß ich ins Schleudern kam. »Ich ... Na ja, natürlich«, stotterte ich. »Ich würde natürlich gern ... Aber ich muß doch noch meinen Abschluß machen ...«
    »In Englisch«, sagte er, und das Wort klang wie etwas Unappetitliches, das er ausspucken mußte. »Ich habe nie ganz verstanden, welche Nutzanwendung das haben sollte, als Fach, meine ich.«
    »Ich weiß nicht.« Ich zuckte die Schultern. Er musterte mich noch immer mit unverwandter Konzentration. »Ich dachte, ich würde vielleicht gern Lehrer werden. Irgendwann, meine ich.«
    Er seufzte. Geduld gehörte nicht zu seinen zahlreichen Qualitäten. Auch Enttäuschungen steckte er nicht ohne weiteres weg. »Denken Sie mal darüber nach, John, mehr will ich gar nicht. Sie brauchen sich nicht jetzt sofort zu entscheiden. Lassen Sie uns beim Abendessen darüber sprechen. Kommen Sie heute abend zu uns, um Punkt sechs – Sie haben doch keine anderen Pläne?«
    »Sexforschung? Bist du verrückt?«
    Paul lag hingestreckt auf seinem Bett, als wäre er Treibgut, das die zurückweichende Flut angeschwemmt hatte. Er kaute Kaugummi und ließ träge einen Tennisball auf dem Schläger hüpfen, den er auf seine Brust gelegt hatte. Auf dem Boden stapelte sich ein halbes Dutzend aufgeschlagene Bücher, auch sie eine Art Treibgut. Ich hatte keine Lust, ihm die Sache zu erklären; er hätte mich ohnehin nicht verstanden.
    »Wenigstens ist es ein Job«, sagte ich und streifte den Pullover so vorsichtig wie möglich über den Kopf, damit meine Frisur in Form blieb. Ich zog mich für meinen Besuch bei den Kinseys um (sie machten sich, wie Mac gesagt hatte, zwar nichts aus Förmlichkeiten – im Privaten mochten sie sogar als Bohemiens gelten –, doch ich hatte das Gefühl, daß Einladungen zum Abendessen, und seien sie noch so häufig und informell, Jackett und Krawatte erforderten, und dieser Meinung bin ich auch heute noch).
    Paul ließ den Ball vom Schläger auf den Boden springen, wo er noch drei-, viermal hüpfte, bevor er unter meinem Tisch verschwand. »Aber was für Fragen er stellt – das ist doch peinlich. Du wirst doch wohl nicht ...?« Er hielt inne und sah die Antwort in meinem Gesicht. »Doch, du wirst, stimmt’s?«
    Ich band mir vor dem Spiegel die Krawatte und musterte meine Augen und die mit Pomade zurückgekämmten Haare. »Wenn ich mich recht entsinne, hattest du damals nichts gegen die Fragen einzuwenden. Du hast sogar was von einzigartiger Erfahrung‹ gesagt. Das war doch das Wort? ›Einzigartig‹?«
    »Hör mal, John, kann ja sein, daß ich total auf dem Holzweg bin, aber findest du nicht, daß man

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