Dr. Sex
Hand, die den Stift umklammerte, schmerzte. Die Fingerspitzen waren tintenverschmiert. Ich unterdrückte ein Gähnen.
Ich weiß nicht, was über mich kam oder wie ich überhaupt auf den Gedanken verfiel, doch mit einem Mal durchstöberte ich Proks Schreibtisch nach dem Sekundärcode, der den Schlüssel zu den Identitäten von allen Befragten enthielt und den er aus Sicherheitsgründen weder mir noch irgendeinem anderen enthüllt hatte. Hätten die Befragten nicht absolut sicher sein können, daß ihre Anonymität gewahrt wurde, die überwältigende Mehrheit von ihnen hätte ihm niemals ihre Geschichte anvertraut. Diese Sicherheit war damals ebenso unabdingbar wie heute. Doch als ich den Code dann in der Hand hielt, fielen mir einige Übereinstimmungen mit dem Interviewcode auf (stellen Sie sich eine Art modifizierter Stenoschrift vor, bei der Abkürzungen, wissenschaftliche Symbole und Stenozeichen zu einer eigenen Geheimschrift verschmolzen), und sobald ich diese Übereinstimmungen entdeckt hatte, begann mein Kopf ganz von allein zu arbeiten. Kurz: Es dauerte nicht mal eine Stunde, bis ich den Sekundärcode geknackt hatte, und als ich somit den Schlüssel zu allen archivierten Unterlagen in den Händen hielt, konnte ich gar nicht anders, als ihn zu gebrauchen. Ich konnte nicht. Ich konnte nicht widerstehen.
Später, als Proks Bekanntheitsgrad in Amerika nur von dem des Präsidenten übertroffen wurde, als sein Bild auf dem Titel von Time war und die Presse gar nicht genug von ihm bekommen konnte, betraf die am häufigsten gestellte Frage sein eigenes Sexleben, und seine Antwort lautete stets, er habe, wie Tausende Menschen, seine Geschichte zu diesem Projekt beigesteuert, und sie werde ebenso anonym bleiben wie alle anderen. Das stimmte natürlich, und nur wir, die zum engsten Kreis gehörten, erfuhren aus erster Hand von den Details – wir waren zur Geheimhaltung verpflichtet, denn wenn irgend etwas davon an die Öffentlichkeit gedrungen wäre, dann hätte sich das Leben eines jeden von uns in seine Bestandteile aufgelöst –, doch an jenem schläfrigen Nachmittag, als sich die Strahlen einer hyperaktiven Sonne durch die Jalousien bohrten und große, brummende Fliegen nichtsahnend über den Kästen mit den konservierten Wespen ihre Kreise zogen, war Dr. Kinseys Geschichte die erste, die ich mir ansah, und die zweite war Claras.
Ich stand flach atmend am geöffneten Schubfach des Schranks, der Ordner lag aufgeschlagen vor mir. Alle paar Sekunden warf ich einen verstohlenen Blick über die Schulter, bereit, den Ordner beim kleinsten Geräusch aus dem vorderen Büro wieder verschwinden zu lassen. Ich war aufgeregt, ja, aber auch gespannt. Hier, in meiner Hand, war Proks Geschichte, hier zeigte sich auf elementarste Weise der Kern seines Wesens. Er kannte meine Geschichte, und nun würde ich seine kennenlernen. Sie war anders als alles, was ich erwartet hatte.
Als Junge war Prok noch schüchterner und unbeholfener gewesen als ich. Er hatte sich kein bißchen für Sport oder irgendwelche geselligen Aktivitäten interessiert, und weil er als Kind Rachitis, Typhus und rheumatisches Fieber gehabt hatte und sein Körper dementsprechend geschwächt war, wandte er sich der Natur zu und ging häufig auf ausgedehnte Wanderungen und Entdeckungstouren, bis er schließlich der durchtrainierte, kräftige Mann war, den ich kannte. (Allerdings war seine Haltung aufgrund einer doppelten Rückgratverkrümmung stets deutlich gebeugt.) Er war Pfadfinderführer. Er masturbierte zwanghaft. Sein Vater war ein religiöser Moralist. Er war schon weit über zwanzig – älter als ich –, als er seine ersten reifen und befriedigenden sexuellen Erfahrungen machte, und das auch erst, als er Clara heiratete.
Und hier wurde die Geschichte interessant. Obgleich die Hochzeitsreise aus einer langen, anspruchsvollen Wanderung durch die White Mountains bestand, bei der er und seine junge Braut mehrere Frühsommernächte aneinandergeschmiegt im Zelt schliefen, wurde die Ehe erst Monate später vollzogen. Dieser Verzug erklärte sich, wie ich später erfuhr, aus ihrer beider Unerfahrenheit sowie aus einer kleinen physiologischen Besonderheit von Claras Hymen, das nämlich ungewöhnlich dick war, und die daraus resultierenden Schwierigkeiten wurden verschärft durch die Tatsache, daß Proks Penis ein gutes Stück größer als normal war. Ich stellte mir die Verlegenheit der beiden vor, ihre Schamhaftigkeit, ihren Mangel an Wissen oder Erkenntnis,
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