Dr. Sex
ließ mich einen Augenblick zappeln. Dann sagte er: »Sie haben den Code geknackt?«
»Ja«, murmelte ich.
»Ich hätte nie gedacht, daß jemand den Code knacken könnte, selbst wenn es ihm gelingen sollte, sich Zugang zu den verschlüsselten Aufzeichnungen zu verschaffen. Ihnen ist doch klar, daß ich mir jetzt einen neuen Code ausdenken muß?«
»Ja.«
»Und daß er unendlich viel komplexer sein muß als der alte?«
Ich sagte nichts, sondern dachte an die Arbeit, die auf ihn zukam, an die vergeudete Zeit, an meine oberflächliche Neugier und die Tatsache, daß ich das Projekt zurückgeworfen hatte, noch bevor es mir gelungen war, etwas beizusteuern. Ich war wütend auf mich. Und ich schämte mich.
Prok stand auf, ging zum Kamin und richtete die Fotorahmen aus, die auf dem Sims standen. Ich betrachtete seinen Rücken, seine lange, sich nach oben verjüngende Gestalt, die schmalen Schultern, das kurze, aufrecht stehende Haar. Er trat ans Fenster und spähte hinaus in die Dunkelheit, dann setzte er sich wieder auf das Sofa und schaltete die Lampe aus. Die Schatten kamen und bemächtigten sich des Raums – das einzige Licht stammte von der Lampe in der Eingangshalle. »So«, sagte er schließlich, »dann kennen Sie also meine Geschichte. Aber« – er klopfte neben sich auf das Sofa – »setzen Sie sich doch zu mir.«
Ich gehorchte, stand von meinem Sessel auf und setzte mich neben ihn.
Er legte mir den Arm um die Schultern und zog mich zu sich heran, bis unsere Gesichter nur noch zehn Zentimeter voneinander entfernt waren. »Sie hätten nicht herumschnüffeln sollen, John«, flüsterte er. »Das hätten Sie nicht tun sollen. Aber es ist gut, daß Sie es gebeichtet haben.«
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Das beweist Charakter. Das wissen Sie doch, oder?« Er drückte brüderlich meine Schulter. »Sie sind ein herausragender junger Mann, und ich weiß Ihre Offenheit sehr zu schätzen, wirklich.«
Und dann geschah etwas Seltsames, das letzte, was ich unter diesen Umständen erwartet hätte: Er küßte mich. Er beugte sich zu mir, schloß die Augen und küßte mich. Es verging eine gewisse Zeit, in der keiner von uns etwas sagte, dann nahm er meine Hand und führte mich die Treppe hinauf zu dem ungenutzten Zimmer im Dachgeschoß, und ich erinnere mich, daß dort ein Tischtennistisch und Kindersachen, eine Angelrute und eine alte Nähmaschine waren – und ein Bett. An jenem Abend ging ich erst sehr spät nach Hause.
4
In diesem Semester hatte Iris ein Shakespeare-Seminar in demselben Gebäude, in dem ich Professor Ellis’ Vorlesung über britische Lyrik der Moderne hörte. Das war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewußt, denn ich hatte es noch nicht über mich gebracht, mit ihr zu sprechen, obwohl ich es mir vorgenommen hatte, und so war ich einigermaßen überrascht, als ich ihr dort eines Nachmittags auf dem Korridor begegnete. Soweit ich mich erinnere, war es ein trüber Tag, der wie Mull vor den Fenstern hing, das Linoleum war naß und rutschig, und die ganze Welt roch nach Schimmel und Gärung. Seit einer Woche regnete es ständig, und es sollte noch mehr Regen kommen. Ich dachte an nichts Besonderes, hatte Schirm, Notizblock und Lyrikanthologie unter den Arm geklemmt, hielt in der anderen Hand meinen nassen Hut und schob mich lustlos durch das Gedränge der Studenten im Korridor. Vielleicht träumte ich. Vielleicht lag es daran.
Sie stand vor mir, bevor ich mich irgendwie wappnen konnte, genau vor mir: Zwei Schulterpaare wichen auseinander, eine Studentin in einem gelben Regenmantel trat grinsend beiseite, jemand rief irgend etwas. Iris. Da war sie. Wir blieben stehen. »Hallo«, sagte sie, und ihr Lächeln war eine Erziehungsmaßnahme für sich.
»Ja«, sagte ich. »Hallo.«
Ihre Augen schienen alles verfügbare Licht im Korridor aufzusaugen, und ich konnte nichts anderes tun, als sie fasziniert anzustarren. Sie schien irgendwas mit ihren Haaren gemacht zu haben, oder vielleicht waren sie einfach nur naß. Was hatte sie an? Einen sechs Nummern zu großen Pullover, einen Wollrock, kurze Söckchen, zweifarbige Schuhe. »Bist du jetzt bei Ellis?«
»Britische Moderne«, sagte ich. »Lyrik, meine ich. Aber sag mal, ich habe nie ... Hast du meine Nachricht gekriegt?«
Sie sah mich fragend an.
»Du weißt schon, an dem Abend ... als wir uns eigentlich dieses Stück ansehen wollten. Ich hab damals die Eintrittskarten und ... na ja, eine Nachricht bei der Frau am Empfang hinterlassen. Im Wohnheim. Ich wollte nur
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