Dr. Sex
Taktstock gehoben. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte nicht überraschter – nein, schockierter, das ist das bessere Wort – sein können, wenn sie mir gesagt hätte, die Nazis seien im Anmarsch auf Muncie. »Das können sie nicht«, sagte ich schließlich. »Er ist ein ausgezeichneter Wissenschaftler. Er hat eine feste Professur.«
»Das Eheseminar ist vorbei. Und weißt du, wie sie es nennen? Sie nennen es ›diese Schmutzvorlesung‹. ›Diese Schmutzvorlesungs ja.« Sie beobachtete mein Gesicht. »President Wells persönlich wird ihn rausschmeißen, und zwar wegen ... was weiß ich, wegen moralischer Verworfenheit. Das hab ich jedenfalls gehört.«
Am nächsten Morgen stiegen Prok und ich noch vor Sonnenaufgang in seinen Nash (ich kann mich weder an das Modell noch an das Baujahr erinnern, aber die Karre, 1928 gebraucht gekauft, wurde meines Erachtens nur noch von Heftklammern und Rost zusammengehalten). Wir fuhren nach Lafayette, wo er zu den Studenten mehrerer Soziologieseminare der dortigen Purdue University sprechen sollte. Unterwegs wollten wir in Crawfordsville halten, um die Interviews zu machen, zu denen wir in der Woche zuvor, als Prok an der DePauw University gesprochen hatte, nicht gekommen waren. Und natürlich freuten wir uns schon darauf, die Geschichten der Personengruppe aufzuzeichnen, die abends Proks Vortrag hören würde; dafür hatten wir die nächsten drei Tage veranschlagt. Das Mittagessen würden wir auf der Fahrt einnehmen: ein paar Schlucke abgestandenes Wasser aus der Steingutflasche, die hinter dem Fahrersitz stand, und einige Handvoll Studentenfutter (Nüsse, Rosinen, Sonnenblumenkerne und ein paar Stückchen Schokolade), das Prok zeit seines Lebens jeden Mittag aß, ob er nun im Astor-Hotel am Times Square residierte, auf der Suche nach Gallen durch die Vorberge der Sierra Madre wanderte oder im Institutsgebäude an seinem Schreibtisch saß.
Der Wagen hatte kein Radio, aber das machte eigentlich nichts, denn Prok sorgte selbst für Unterhaltung. Von dem Augenblick an, als ich mich im morgendlichen Zwielicht auf den Beifahrersitz setzte, bis zu dem Augenblick, als wir in Crawfordsville ausstiegen, redete er ohne Punkt und Komma, und als wir weiterfuhren, knüpfte er nahtlos an und hörte erst auf, als wir am späten Nachmittag in Lafayette ankamen. Er sprach über Sex. Über das Projekt. Über die Notwendigkeit, mehr Geschichten aus der Unterschicht zu sammeln, aus der schwarzen Bevölkerung, von Taxifahrern, Bergleuten, Baggerfüh- rern, zum Ausgleich gewissermaßen, weil die Geschichten von Studienanfängern, so wertvoll sie auch sein mochten, nur einen Teil des Gesamtbilds wiedergäben. Wenn neben der Straße eine Kuh stand, sprach er über Milchproduktion und die schwere Zeit der Dürrejahre. Er sprach über Topographie, über die Ökologie fließender und stehender Gewässer, über das Suchen von Pilzen – hatte ich schon mal frische Morcheln probiert, leicht paniert und gebraten? Es störte mich nicht, kein bißchen. Es gehörte alles zu meiner Ausbildung.
Außerhalb von Spencer kamen wir an den White River, als hinter uns die Sonne aufging, sich über das Wasser ergoß und alles mit Kupfer überzog. Im Dunst, der von der Wasseroberfläche aufstieg, stand die Silhouette eines Graureihers, die Maisfelder fingen Feuer, Apfelund Birnbäume lösten sich, mit leuchtenden Früchten beladen, aus dem Zwielicht. Die Straße war feucht von Tau, und als die Sonne darauf schien, stieg auch hier Dampf auf. Die Reifen durchpflügten ihn, und er stob nach beiden Seiten durch die Brückengeländer wie ein sich sammelnder Sturm. Das war der Augenblick, da ich beschloß, mich von der Bürde der Information zu befreien, die Laura Feeney mir gegeben hatte und die ich seit nunmehr beinahe vierundzwanzig Stunden in meinem Kopf herumwälzte. »Prok«, sagte ich und unterbrach ihn in einer Geschichte, die ich schon zweimal gehört hatte – es ging um einen Häftling, der mitten im Interview in einem Staatsgefängnis seinen Penis hervorgeholt und zum Vermessen auf den Tisch gelegt hatte –, »stimmt es, daß ... Ich habe Gerüchte gehört, daß du mal wieder unter Druck gesetzt wirst, jedenfalls mehr, als du mir gesagt hast. Wegen des Eheseminars. Sie werden dich doch nicht ... na ja, rausschmeißen, oder?«
Ein Strahl der tiefstehenden Sonne schien in den Wagen und beleuchtete Proks Gesicht unterhalb des Mundes. Es sah aus, als trüge er einen Bart aus Licht. Er blickte mich finster
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