Dr. Sex
übrigen dreihundert Anwesenden Neugierige, die mal vorbeischauten und auf ein wenig Stimulation hofften). Prok sprach wie immer frei, ohne schriftliches Konzept, und wie immer schlug er das Auditorium vom ersten bis zum letzten Wort in seinen Bann. (Ob das Thema vorehelicher Sex, die Psychologie der sexuellen Repression, die Funktion adoleszenter Triebbefriedigung, die Geschichte der Sexforschung oder der Vergleich der Häufigkeit von Masturbation bei Männern und Frauen einer Altersgruppe war – für Prok spielte das keine Rolle. Alle seine Vorträge waren im Grunde ein einziger Vortrag. Und ich sollte hinzufügen, daß er eine natürliche Begabung besaß und nie auf irgendwelche Tricks oder theatralischen Gesten zurückgriff. Er sprach klar und deutlich und weitgehend unmoduliert, jeder Zoll ein Mann der Wissenschaft, der sich über ein für die ganze Menschheit enorm wichtiges Thema verbreitete. Er war kein Mark Anton oder gar ein Brutus, aber er machte seine Sache besser als irgendein anderer.)
Und wie immer kamen anschließend viele, viele Studenten, die uns ihre Geschichten anvertrauen wollten, und Prok und ich saßen an einem langen Tisch hinter dem Podium und vergaben Termine. Abendessen? Ich kann mich nicht erinnern, ob wir an jenem Abend etwas gegessen haben – vielleicht ließen wir uns ein paar Sandwiches aufs Zimmer kommen –, aber wir begannen mit den Interviews, sobald sich der Hörsaal geleert hatte und wir wieder im Hotel waren. Prok führte seine Interviews in unserem Zimmer durch, und ich setzte mich in einen Nebenraum des Restaurants. Als ich fertig war, muß es schon nach Mitternacht gewesen sein (drei Soziologiestudenten, die sich freiwillig gemeldet hatten, weil sie bei Professor McBride ein paar Extrapunkte kriegen wollten; ihre Antworten waren erwartungsgemäß: nichts, was ich nicht bereits gehört hatte). Ich ließ mich mit einem verdünnten Drink in einen der Sessel in der Hotelhalle sinken und sah den Uhrzeigern zu, während Prok das letzte Interview des Abends beendete.
Danach machten wir uns bereit, zu Bett zu gehen, und verglichen unsere Termine. Dabei entdeckten wir, daß wir einen Fehler gemacht hatten: Wir hatten für den nächsten Morgen zwei Frauen um dieselbe Uhrzeit bestellt, anstatt einen Mann und eine Frau. Entweder würden wir einen dieser Termine absagen müssen, oder ich wäre gezwungen, mein erstes Interview mit einer Frau zu führen, und das war etwas, was Prok mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht zutraute. Er sah vom Terminplan auf, schüttelte langsam den Kopf, erhob sich vom Sofa und ging ins Badezimmer, um seine Dentalprophylaxe vorzunehmen (er legte großen Wert auf Zahnpflege, eine Angewohnheit, der er es verdankte, daß er, als er starb, noch sämtliche Zähne hatte). »Ich weiß nicht, Milk«, sagte er mit erhobener Stimme, um das Geplätscher des Wassers zu übertönen, »aber ich sage sehr ungern einen Termin ab. Zum einen ist es ineffizient. Zum anderen kostet es uns Daten. Nein. Es bleibt uns nichts anderes übrig – wir machen es wie geplant.«
Im nächsten Augenblick war er wieder im Zimmer, und zwar vollbekleidet, was an sich schon ungewöhnlich war, denn sobald wir unser Tagwerk vollbracht hatten, zog er sich nackt aus und ermunterte mich, es ihm nachzutun. (Ja, auf diesen Reisen waren wir oft miteinander allein und setzten unsere sexuelle Beziehung fort, aber meine Entwicklung und meine Vorlieben zogen mich in die andere Richtung. Ich verehrte Prok und verehre ihn noch heute, doch in dieser Hinsicht entfernte ich mich von ihm und bewegte mich auf Mac und Iris zu, auf die Studentinnen in ihren weiten Pullovern und engen Röcken, die über den Campus zogen wie Antilopen über die Savanne. Wie auch immer: Ich genoß es, mit Prok zusammenzusein, ich fühlte mich geehrt und freute mich auf diese Reisen, denn sie enthoben mich der langweiligen Schreibtischarbeit und den Beschränkungen des Kleinstadtlebens und ermöglichten es mir, ein bißchen mehr von der Welt zu sehen und aufzunehmen, jedenfalls von Indiana, später aber auch von Chicago, New York, San Francisco und Havanna.) »Wir werden deine Ausbildung etwas beschleunigen müssen«, sagte er, und in seiner Stimme war nicht ein Hauch von Leichtigkeit.
Ich war erschöpft. Die Reise, die übersprungenen Mahlzeiten, die Konzentration, die man aufbringen mußte, um an einem Tag fünf komplette Geschichten aufzuzeichnen – das alles hatte mich so ermüdet, als hätte ich den Tag damit verbracht, an
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