Dr. Sex
einer Kette ein Jahrgangsring, der vermutlich Jim Willard gehörte). Als sie aufblickte und mich erkannte, veränderte sich ihr Gesicht, und sie blieb reglos stehen, bis ich vor ihr stand. »Laura«, sagte ich, plötzlich wieder schüchtern. »Hallo.«
Sie schwieg einen Augenblick. »John«, murmelte sie dann, mit einem zögernden Unterton, als probierte sie den Namen aus, um zu sehen, ob er paßte. »Hallo. Schön, dich zu sehen.« Eine Pause. »Wie war der Sommer?«
Wir hätten dieselbe Unterhaltung führen können wie ein Jahr zuvor, nur daß ich diesmal nicht in die tödliche Langeweile von Michigan City und das Dachzimmer im Haus meiner Mutter zurückgekehrt war, denn ich stand jetzt mitten im Leben und hatte eine Vollzeitstelle, und darum blieb ich auch in den Semesterferien bei Mrs. Lorber, obgleich Paul Sehorn ausgezogen war und ich bald einen neuen Zimmergenossen bekommen würde – sofern sich irgend jemand auf Mrs. Lorbers Annonce meldete. Während wir der Konvention Genüge taten und belanglos plauderten – darin war sie eine Meisterin –, sah ich sie an, und dann faßte ich mir ein Herz und kommentierte das Kettchen an ihrem Hals. »Wie ich sehe, trägst du Jim Willards Jahrgangsring.«
»Was? Ach, das.« (Eine Gelegenheit, über ihren Busen zu streichen und den Ring auf Augenhöhe zu heben.) Sie stieß einen kleinen Lacher aus, der bescheiden sein sollte, aber nur kokett war. Mein Interesse wuchs. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe einen Willard gegen den anderen eingetauscht.« Wieder ein Lachen. »Kennst du Willard Polk?«
Ich zögerte.
»Stellvertretender Kapitän der Football-Mannschaft? Ich gehe mit ihm. Weihnachten wollen wir uns verloben.« Gedankenverloren ließ sie eine Fußspitze kreisen, und ich warf unwillkürlich einen Blick auf ihre Knöchel und Waden. »Jim und ich? Na ja, irgendwie kamen wir einfach nicht mehr miteinander zurecht. Aber jetzt« – sie strahlte mich mit voller Kraft an – »bin ich verliebt. Wirklich. Ganz im Ernst. Für immer.« Wieder eine Pause. Ihr Gesicht zog sich um ihren Mund zusammen. Ihre Augen wurden schmaler. »Aber was ist mit dir? Wenn ich recht gehört habe, arbeitest du jetzt für Kinsey?«
Ich nickte und versuchte zu lächeln.
»Unseren alten Professor«, sagte sie. »Dr. Sex.« Sie spielte noch immer mit dem Ring und ließ ihn unvermittelt zwischen ihre Brüste fallen. »Ich hab gehört, du machst jetzt selbst Sex-Interviews.«
Ich war ein vollkommen anderer Mensch als ein Jahr zuvor, ich war sexuell erfahren, ich stand mitten im Leben, ich war mit sämtlichen sexuellen Praktiken vertraut, und trotzdem wurde ich rot. »Nur mit Männern«, sagte ich. »Mit Studienanfängern. Weil die, na ja ... am wenigsten kompliziert sind, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Tatsächlich?« Da war er wieder, der kokette Ton. »Und was ist mit den Studentinnen? Sind die nicht noch ... unkomplizierter? All diese züchtigen Jungfrauen in den Wohnheimen? Wirst du die auch befragen, oder ist das eine von diesen Untersuchungen, die uns verraten, was für Tiere Männer in Wirklichkeit sind? Als ob wir das nicht schon längst wüßten, stimmt’s, John?«
Ich wurde also rot. Ich hatte Geschlechtsverkehr mit Mac gehabt, ich hatte Iris den ganzen Sommer über vermißt, und der Schmerz war so tief und unstillbar gewesen, als hätte man mir ein wichtiges Organ entfernt. Doch als ich da stand und versuchte, das Blut mit Willenskraft aus den Wangen zu drücken, wollte ich – warum es nicht aussprechen? – Laura Feeney vögeln, ganz gleich, wie viele Willards sie hatte. Ich sah sie nackt, ohne Kleid und Hütchen und Schuhe, sah ihre nackten Brüste und die prallen Brustwarzen. Laura Feeney, Laura Feeney, nur du allein. Das riefen meine Augen ihr zu, und sie bemerkte die Veränderung in mir und tat wirklich einen Schritt zurück, das heißt, sie verlagerte ihr Gewicht auf den hinteren Fuß und vergrößerte den Abstand zwischen uns ein wenig. »Nein«, sagte ich, und ich gebe zu, daß ich wohl ein bißchen anzüglich grinste, »nein, die Frauen werde ich auch befragen. Das hat Prok mir versprochen. Aber nicht hier. Nicht hier an der Uni.«
Hochgezogene Augenbrauen. »Prok?«
»Professor Kinsey. So nennen wir ... so nenne ich ...«
»Ich hab gehört, sie wollen ihn rausschmeißen.«
Das war der Augenblick, in dem der Vogelgesang und das Plätschern des Bachs und die Fehlzündungen eines Wagens auf dem Fakultätsparkplatz verstummten, als hätte ein Dirigent seinen
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