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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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standen Gestalten, Pärchen drückten sich in die Schatten, und aus den Fenstern der Zimmer in den oberen Etagen strahlte Licht, als wäre alles Leben auf dem Campus hier konzentriert. Und so war es ja auch. Jedenfalls um diese Uhrzeit.
»Was soll mit ihr sein?«
Plötzlich riß Iris sich los und beschleunigte ihre Schritte. »Du hast mit ihr geschlafen«, sagte sie. »Sie hat mir alles erzählt.« Das Licht aus der Reihe der Fenster über uns lag auf ihrem Gesicht und ihrem Haar, es versilberte die Schultern des Mantels und die dunkle gewellte Hutkrempe. »Sie hat’s mir gesagt«, sagte sie, und es war etwas in ihrer Stimme, eine Mischung aus Wut und Verzweiflung, die ihr die Kehle zuschnürte, »und du hast mich angelogen.« Sie fuhr herum und baute sich vor dem Eingang auf. »Du«, sagte sie. »Du, John Milk. Mein Ehemann.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte eine Rede halten müssen, ich hätte stunden-, tagelang Zeit haben müssen, ich hätte ein ganzes Gebäude aus philosophischen Versatzstücken errichten und Punkt für Punkt erläutern müssen, doch bis zur Sperrstunde blieben uns nur mickrige zehn Minuten. »Ich wollte dich nicht... nicht überraschen«, sagte ich. Das war das Beste, was mir einfiel. »Oder ... oder dich verletzen, ich meine, wenn –«
»Lügner.« Sie spuckte mir das Wort vor die Füße. Köpfe wandten sich zu uns um. Für einen kurzen, harten Augenblick lösten sich die Pärchen in den Schatten aus ihren Umarmungen. »Du bist ein Lügner«, sagte sie, drehte sich um, ging die Treppe hinauf und trat ins Licht, und ich stand da und sah zu, wie sie die Tür aufriß und hinter sich zuknallen ließ.
    Eine Woche später vereinbarte Iris einen Termin bei Prok und gab ihm ihre Geschichte. Wenn ich mich recht entsinne, regnete es in jenem Herbst ungewöhnlich viel, und der Winter setzte früh ein. Alles war wie erstarrt, die Wochen verschmolzen miteinander, und dann schrieb Corcoran, er nehme Proks Angebot an, und die Japaner stiegen eine Stunde vor Sonnenaufgang in ihre Maschinen und fielen über Pearl Harbor her. Und dann war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.
10
    Nach dem, was ich bereits über mich selbst enthüllt habe, wird es Sie kaum überraschen, daß ich bei der ersten Gelegenheit (Prok war allein weggefahren, um vor einer Bürgervereinigung in Elkhart zu sprechen und im benachbarten South Bend Violet Corco-rans Sexualgeschichte aufzuzeichnen) an den Aktenschrank ging und zwei Geschichten heraussuchte, die für mich von besonderem Interesse waren: Corcorans und die meiner Frau. Darf ich Ihnen auch anvertrauen, daß ich nicht die leisesten Skrupel oder Schuldgefühle hatte? Nein, diesmal nicht. Nicht mehr. Prok war nicht da, und nur er hätte mich davon abhalten können, sonst niemand. Innerhalb einer Stunde hatte ich Proks neuen, wasserdichten Code geknackt. Ich nahm die Unterlagen aus dem Schrank und legte sie nebeneinander vor mich auf den Schreibtisch.
    Es war kurz vor den Weihnachtsferien, das ganze Land steigerte sich in eine Kriegshysterie hinein. Prok war bereits besorgt, weil Benzin, Reifen und alles mögliche andere, wie es hieß, bald rationiert sein würden, und kündigte an, daß wir in Zukunft öfter mit dem Zug fahren müßten, mit dem Zug und dem Bus. Alle waren so abgelenkt, so schockiert und empört über die Ereignisse des 7. Dezember, daß Weihnachten unwichtig geworden zu sein schien – wer konnte schon an den Weihnachtsmann denken, solange Tojo und Hitler die Welt unsicher machten? Wenn ich mich recht erinnere, herrschte eine Kältewelle, die Stadt hatte die Farbe von Muschelschalen, für den Nachmittag waren Schneeschauer vorausgesagt, und ich war früh ins Büro gegangen und hatte einiges zu erledigen: Ich mußte zahllose Daten tabellieren, Kurven und Grafiken zeichnen und die Korrespondenz erledigen, auch wenn diese damals nichts war im Vergleich zu der Flut von Briefen, die wir – eigentlich hauptsächlich Prok – beantworten mußten, nachdem wir 1948 unsere Forschungsergebnisse veröffentlicht hatten. Von da an erhielt Prok jährlich unzählige Briefe von wildfremden Menschen, die Rat suchten, sich Hilfe bei sexuellen Problemen erhofften, ihre Dienste als Hilfswillige anboten und freizügige Fotos und Tagebücher, erotische Kunstwerke, Godemiches, Handschellen, Peitschen und dergleichen schickten. Ich erinnere mich an einen Brief von einem Anwalt, dessen Mandant angeklagt war, »widernatürliche Unzucht mit einem Schwein

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