Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
wie der Draht, der unsere Stimmen durch die Nacht transportierte. »Ich liebe dich«, sagte ich. »Dich und niemand sonst. Der Rest ist bloß –«
»Eine Körperfunktion?«
»Iris, hör mir zu. Ich liebe dich. Ich will dir ins Gesicht sehen, denn das hier ist nicht... Wir sollten nicht am Telefon ...«
»Mac«, sagte sie, und ich war mir nicht ganz sicher – die Verbindung war schlecht –, aber in ihrer Stimme war ein Kummer, dessen Schärfe etwas vom Augenblick abschnitt und mir das Gefühl gab, sie werde gleich in Tränen ausbrechen. »Mac und ich haben geredet. Sie ist wie eine Mutter, aber das weißt du ja, nicht? Sie hat mir dasselbe gesagt wie du: daß es nichts bedeutet, überhaupt nichts. Es sind bloß Tiere, die sich aneinanderreihen.«
»Iris«, sagte ich, »ich liebe dich.«
Es trat eine lange Stille ein. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme beinahe unhörbar. »Und Prok und ich?« flüsterte sie. »Ist es das, was du willst?«
Ich hätte aus Zellulose sein können, aus Holz, ein Bildnis von John Milk, das jemand an einem stürmischen Herbstabend in einer Telefonzelle am Rand des Rasengevierts aufgestellt hatte. Man hätte Nägel in mich schlagen können, man hätte mich versengen und mit allen möglichen Werkzeugen an mir herumschnitzen können – ich spürte nichts. »Nein«, sagte ich. »Nein, das will ich nicht. Das ist nicht das ... Du sollst nichts tun, was du nicht willst.«
»Aber ich gebe ihm meine Geschichte, oder nicht? Warum nicht auch den Rest von mir?« Eine Pause. Der Wind schüttelte die Telefonzelle. »Es bedeutet doch nichts, oder?«
Ich war aus Holz. Ich konnte nicht sprechen.
»John? John, bist du noch da?«
»Ja.«
»Dein ... wie soll ich ihn nennen? Dein Kollege Corcoran ...« Ein neuer Ton hatte sich in ihre Stimme geschlichen, ein Ton, der mir gar nicht gefiel. »Er schien sehr interessiert. Hast du ihn gesehen heute abend? Ja? Er hat wie eine Klette an mir gehangen.«
Und so machte ich mich über Corcorans Geschichte her. Das heißt, nachdem sich alles wieder ein bißchen beruhigt hatte, nachdem Iris und ich hundertmal darüber gesprochen hatten, nachdem wir das Gelübde, das wir vor dem Friedensrichter abgelegt hatten, noch einmal bestätigt und auf dem Rücksitz des Nash miteinander geschlafen und all unser Geld zusammengekratzt hatten, um eine Anzahlung auf eine erste gemeinsame Wohnung zu leisten, denn das alles war unerträglich, diese Trennung, diese Sehnsucht, diese Mißverständnisse. Jetzt war alles in Ordnung, und das würde es auch bleiben – soweit ich das an diesem wie ausgehöhlten Dezembermorgen sagen konnte, an dem Prok nicht da war und ich mir die Unterlagen vornahm, um zu sehen, was für ein Mensch Corcoran war. Was soll ich sagen? Ich saß im Licht der Lampe da und fuhr mit dem Finger über den Interviewbogen, registrierte Akte, Alter, Häufigkeiten und rekonstruierte ein sich ständig erweiterndes Szenario voll Experimentierlust und sexuellem Draufgängertum. Was die sexuelle Erfahrung betraf, war Corcoran tatsächlich das Gegenteil von mir. Er war früh gereift und hatte sich das zunutze gemacht, er war genau die Art von Person, die wir später als »hochaktiv« bezeichneten und die zeit ihres Lebens mehr sexuelle Kontakte mit mehr Partnern haben als der Durchschnitt – und weit mehr als die »minderaktiven« am anderen Ende der Skala.
Corcoran war in Lake Forest aufgewachsen, als Sohn eines Professors, der später, als Corcoran vierzehn war, mit der ganzen Familie nach South Bend zog, um einen Ruf an die Notre Dame University anzunehmen. Corcorans Vater war katholisch, ging aber kaum zur Kirche, und seine Mutter war Unitarierin und eine Art Freigeist. Man war zu Hause nackt herumgelaufen, denn beide Eltern waren eine Zeitlang Nudisten gewesen, was der Vater sorgfältig vor seinen Vorgesetzten verbarg, ebenso wie Prok sein Privatleben vor den Blicken seiner Kollegen schützen mußte. Corcoran konnte sich erinnern, als kleines Kind Erektionen gehabt zu haben, und seine Mutter hatte ihm versichert, die habe er schon als Säugling gehabt – sie habe darüber immer Witze gemacht und gesagt, er sei wie ein kleiner Zinnsoldat gewesen, der immer in Habtachtstellung gegangen sei, wenn sie ihm die Windeln gewechselt habe –, und obgleich das ungewöhnlich ist, hat unsere Erforschung der kindlichen Sexualität ergeben, daß ein solches Verhalten – insbesondere bei hochaktiven Menschen – keineswegs anormal ist. Mit elf hatte er seinen ersten Orgasmus,

Weitere Kostenlose Bücher