Dr. Sex
Zeit, darüber nachzudenken, denn Prok wandte sich sogleich an mich und sagte: »Ich könnte mir vorstellen, daß du heute etwas früher gehen möchtest, Milk. Oder besser noch: Vielleicht möchtest du unten, in der Bibliothek, weiterarbeiten.«
Und dann Corcoran.
Doch Corcorans Geschichte – und sie war, wie gesagt, sehr umfangreich, er war der sexuell aktivste Proband, der uns bisher begegnet war – ist an diesem Punkt vielleicht nicht so wichtig wie der Fortgang der Szene mit Iris auf der Treppe vor dem Wohnheim, denn die war von großer Bedeutung für dies und alles, was noch kommen sollte. Sie nannte mich einen Lügner. Ließ die Tür zuknallen und mich in der Kälte stehen. Die anderen Studentenpärchen schlichen an mir vorbei wie Phantome. Ich war mit zwei Tatsachen konfrontiert: Mac hatte ihr alles erzählt, und sie hatte es höchstwahrscheinlich die ganze Zeit gewußt – bei unserer Versöhnung, bei unserer Hochzeit, während der Flitterwochen, an den intimen, verbummelten Sonntagnachmittagen im Sommer, im Herbst – und dennoch nie ein Wort darüber verloren. Sie hatte mich beobachtet wie eine Spinne und auf ihre Gelegenheit gewartet. Und die hatte sich nun geboten. Die Tür knallte hinter ihr zu, das Haus verschluckte sie, und ich stolperte wie ein Invalide über den Campus, bis ich ein Münztelefon fand und im Wohnheim anrief.
Es meldete sich die Rezeptionistin. »Bridget?« sagte ich. »Hier ist John Milk. Kannst du Iris an den Apparat holen?«
»Klar«, sagte sie, doch ihre Stimme war kalt und distanziert, und ich fragte mich, wieviel sie wußte. Der Hörer wurde mit einem Klatschen, das wie Fleisch auf Fleisch klang, abgelegt, und dann hörte ich nur noch Rauschen. Nach einigen Sekunden vernahm ich vertraute Geräusche: entfernte Schritte, ein Kichern, die Stimme eines Mannes. »Gute Nacht«, sagte ein anderer, und eine weibliche Stimme bat: »Noch einen Kuß.«
Als Iris schließlich den Hörer aufnahm – nach zwei Minuten oder zehn, ich hätte es nicht sagen können –, klang sie, als spräche sie mit einem Fremden, einem unerwünschten Anrufer, mit jemandem, der ihr etwas verkaufen wollte. »Was willst du?« fuhr sie mich an.
»Ich will bloß ... also ... ich will bloß reden ... das heißt, wenn du ...«
»Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?« sagte sie, und jetzt klang sie schon besser, jetzt klang sie wieder wie Iris – wütend zwar, aber irgendwie auch ergeben. »Hast du gedacht, ich bin blöd oder was? Oder blind? Hast du das gedacht?«
»Nein, hab ich nicht. Es war nur so, daß ich ... Na ja, ich fand eigentlich nicht, daß ich irgendwas falsch gemacht hatte, und ich wollte nicht, daß du dich aufregst, das war alles. Es war das Projekt. Das menschliche Säugetier. Es gibt nichts, wofür man sich schämen müßte, gar nichts.«
Sie schwieg. Ich lauschte dem Blitzkrieg der statischen Elektrizität. Iris befand sich auf der anderen Seite des Rasengevierts, doch sie hätte ebensogut tausend Meilen entfernt sein können.
»Hör zu, Iris«, sagte ich, »du mußt versuchen, diese antiquierten Vorstellungen über ... na ja, über freiwillige Beziehungen zwischen erwachsenen Menschen abzulegen. Wir leben in modernen Zeiten, und wir sind Wissenschaftler oder wollen es jedenfalls sein, und all dieser Aberglaube, diese Ängste und Schuldzuweisungen, all diese gesellschaftliche Ächtung hemmt uns, als Gesellschaft, meine ich. Verstehst du das nicht?«
Ihre Stimme klang, als hätte sie gar nicht zugehört. Es war eine kleine Stimme, die an den Rändern bebte. »Und Prok?«
»Was soll mit Prok sein?« fragte ich.
»Du und Prok?«
Ich stand in einer Telefonzelle, in gelbes Licht getaucht. Es war kalt. Der Wind rüttelte an der Falttür und drang durch die Ritzen. Ich bin sicher, daß ich zitterte, aber ich sprach mit Iris, mit meiner Frau, und ich mußte alles auf den Tisch legen, ich mußte von nun an offen und ehrlich sein, sonst war diese Ehe zum Scheitern verurteilt, das war mir jetzt klar. »Ja«, sagte ich.
Ihre Reaktion überraschte mich. Sie fiel nicht über mich her, sie rief nicht: »Wie konntest du nur?«, sie wollte nicht wissen, wann und wie oft, sie fragte mich nicht, ob ich ihn liebte oder er mich oder wie sie und Mac da hineinpaßten, und sie benutzte keines jener ekelhaften Wörter, mit denen andere so schnell bei der Hand sind: Schwuchtel, Tunte, Perverser. Sie sagte nur: »Ich verstehe.«
Was empfand ich? Scham? Ein wenig. Erleichterung? Ja, sicher, aber sie war so schwächlich
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