Dr. Sex
(Analverkehr)« getrieben zu haben, und der von Prok ein Gutachten über die statistische Häufigkeit solcher Akte mit Tieren erbat (6 Prozent der Gesamtbevölkerung, 17 Prozent der männlichen alleinstehenden Landbevölkerung). Prok lehnte ab. Höflich.
Jedenfalls beugte ich mich über den Schreibtisch, während in einem hinteren Winkel meines Kopfes ein Weihnachtslied herumspukte (Iris und ich waren am Abend zuvor in einem Chorkonzert gewesen), auf dem Korridor einer von Proks Kollegen sich räusperte oder die Nase putzte und Sekretärinnen in hochhackigen Schuhen vorbeiklackerten, daß es sich anhörte, als würden kleine Lokomotiven über die Schienen einer Modelleisenbahn rattern. Ich nahm mir zuerst Iris’ Geschichte vor, und wie ich vermutet hatte, gab es hier keine Überraschungen. Erst mit siebzehn, als sie bereits auf dem College war, fand sie heraus, was das Wort »masturbieren« überhaupt bedeutete, und dann war sie so gehemmt, daß sie es nur zwei- oder dreimal ausprobierte, ohne zum Orgasmus zu kommen. Sie hatte sowohl manuelle als auch orale Stimulation der Brüste durch andere Männer – Jun- gen – erfahren, aber bis zu ihrer Verlobung und Heirat weder Petting noch Koitus. Sie verfügte über begrenzte sexuelle Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht, und die lagen weit zurück, in ihrer Kindheit, sie hatte keinerlei sexuelle Kontakte mit Tieren und nur wenige Phantasien. Sie hatte niemals irgendwelche Objekte benutzt und (bis jetzt) niemals das männliche Glied in den Mund genommen.
Es gab in ihrer Geschichte nichts, was ich nicht schon hundertmal gehört hatte, und ich fragte mich, warum sie sich gesträubt hatte, ihre Geschichte beizusteuern – wirklich, sie war ganz und gar nicht ungewöhnlich –, und dann fragte ich mich, ob es vielleicht genau daran lag, daß sie sich schämte, so wenig vorweisen zu können. Als wäre uns nur an den extremen Fällen gelegen, an den Sexathleten, den Promiskuitiven und Verwöhnten, an denen, deren Werte weitab vom statistischen Mittel lagen. War das möglich? Oder lag die Ursache tiefer, in einem Widerstand gegen die Idee des Forschens an sich? In einem Widerstand gegen Prok? Gegen mich? Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz brechen: Es war ihr nicht leichtgefallen, und sie hatte es für mich getan, nur für mich – wenn sie mich nicht lieben würde, hätte sie ihre Geschichte niemals preisgegeben. Es entsprach einfach nicht ihrem Wesen. Vielleicht starrte ich eine Zeitlang aus dem Fenster auf die verschlossene graue Krypta des Himmels, vielleicht sprach ich ihren Namen laut aus: Iris. Nur dieses eine Wort: Iris.
An dem Tag, als sie in unser Büro kam, war sie so nervös, so angespannt, so schüchtern und verletzlich und schön. »Hallo, Dr. Kinsey«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Und hallo, John.« Ich wußte, daß sie kommen würde, und war selbst sehr aufgeregt, den ganzen Tag schon. Stunden vor dem vereinbarten Termin war ich jedesmal, wenn ich Schritte auf dem Korridor gehört hatte, unwillkürlich auf meinem Stuhl hin und her gerutscht und hatte zur Tür gesehen. Ich dachte, ich sei bereit dafür, bereit, diese Sache hinter uns zu bringen wie ein letztes Hochzeitsritual, wie eine Impfung oder den für die Heiratserlaubnis erforderlichen Test auf Geschlechtskrankheiten, doch obwohl ich andauernd auf die Uhr sah und mein Magen sich anfühlte, als hätte ich seit einer Woche nichts gegessen, war ich, als sie dann kam, beinahe überrascht, sie zu sehen. Ich hatte an einer für meine Verhältnisse reichlich komplizierten Berechnung gearbeitet (Standardabweichung vom Durchschnitt bei stichprobenartig ausgewählten Männern, die von nächtlichen Samenergüssen berichtet hatten), und sie war lautlos wie eine Katze eingetreten. Ich sah auf, und da war sie, mit hängenden Schultern, elfenhaft, in ihrem Mantel versunken wie ein Kind, Handschuhe, Hut, ein flüchtiges, blasses, aufgeregtes Lächeln auf den Lippen. Prok und ich erhoben uns gleichzeitig, um sie zu begrüßen.
»Iris, kommen Sie, kommen Sie.« Proks Stimme troff vom süßen Schmelz seines gewinnendsten Interviewertons. »Warten Sie, lassen Sie mich Ihren Mantel nehmen – furchtbar kalt draußen, nicht?«
Iris bestätigte es. Sie lächelte mir zu, als sie den Mantel ablegte und Prok um sie herumwuselte, begierig, eine neue Geschichte aufzuzeichnen. Ob sie unschlüssig wirkte, vielleicht sogar ein bißchen benommen? Ich glaube schon. Doch mir blieb gar keine
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