Dr. Siri sieht Gespenster - Cotterill, C: Dr. Siri sieht Gespenster - Thirty-Three Teeth
er hier geraten war, und mehr erfahren über die exotischen Früchte, die er zum Teil noch nie gesehen hatte. Er ging durch die üppig begrünten Reihen. In einem so trockenen Sommer wie diesem hätte man sie drei bis vier Mal täglich wässern müssen, damit sie so reichliche Ernte gaben. Erst in der letzten Reihe traf er auf einen Gärtner.
Der alte Mann trug einen kegelförmigen vietnamesischen Hut, den er mit einem roten Tuch unter dem Kinn gebunden hatte, eine blaue Bauernjacke und kurze Hosen. Er stand in der Krone eines Orangenbaums und beschnitt die Zweige. Siri konnte sein Gesicht kaum sehen.
»Wohlsein, mein Freund.«
Der Mann antwortete, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Gleichfalls einen guten Tag, mein Freund.«
»Sie haben hier ein paar seltene Obstbäume.«
»Danke. Leider habe ich sie in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt. Ich konnte eine Weile nicht herkommen.«
Die Stimme des Mannes klang sanft, weltgewandt und gütig, dachte Siri. Er musste ungefähr in seinem Alter sein.
»Viele dieser Sorten habe ich noch nie gesehen.«
»Nein? Was für Früchte kennen Sie denn?«
»Die meisten Dschungelarten und die üblichen Importe.«
»Na, dann können Sie viele dieser Pflanzen auch nicht kennen. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben, schnappen Sie sich doch die Astschere und helfen Sie mir, ein paar Zweige zu beschneiden. Bald wird sich keiner mehr um sie kümmern.«
»Wie schade. Warum?«
Entweder gab der Mann ihm keine Antwort, oder Siri konnte ihn durch das dichte Laub nicht hören. Er sah in den Korb, in dem ein edles Gartenmesser sowie eine wunderschöne vergoldete Astschere in Form zweier turtelnder Reiher lagen.
»Sie nehmen Ihre Arbeit ernst.«
»Ja, man muss mit dem ganzen Herzen bei der Sache sein.«
Siri ging zum nächsten Orangenbaum und machte sich an den alten, tief hängenden Ästen zu schaffen.
»Es ist so friedlich hier. Warum konnten Sie in letzter Zeit nicht herkommen?«
»Wegen der neuen Regierung, Bruder. Hier in Luang Prabang herrscht ein strenges Regiment. Unsere Bewegungsfreiheit ist erheblich eingeschränkt.«
»Aber das ist ein blühender Obsthain. Er braucht regelmäßige Pflege. Mit den Früchten könnten sie ein ganzes Bataillon durchfüttern.Von den Dörfern in der Gegend ganz zu schweigen.«
Der alte Mann hielt inne. »Hmm. Schon möglich. Nur dass die Leute hier in der Gegend ungern aus diesem Garten naschen.«
»Warum?«
»Sie sind wohl nicht von hier?«
»Nein. Ich gehöre zu den einfallenden Horden. Ich habe ein Gutteil meines bewegten Lebens in den Urwäldern von Houaphan und Nordvietnam verbracht.«
»Ah. Sie sind einer von denen. Kein Wunder. Dann können Sie natürlich nicht wissen, wem dieser Obstgarten gehört.« Er machte eine Kunstpause. »Er gehört der königlichen Familie beziehungsweise dem, was davon noch übrig ist.«
»Gut. Das erklärt vielleicht, warum die Leute die Früchte Seiner Majestät verschmähen. Aber die Vögel und Insekten bleiben doch wohl aus anderen Gründen fern.«
»Äh, ja. Sehr gut beobachtet. Das ist nicht ganz so einfach zu erklären.«
Er stieg von seinem Baum und verschwand hinter der nächsten Reihe, sodass Siri ihn durch die Blätter nur noch sporadisch zu Gesicht bekam. Obwohl er sich langsam, wie unter Schmerzen bewegte, hielt der Mann den Rücken kerzengerade. Kein Zweifel, das war die Haltung eines königlichen Gärtners. Siri konnte förmlich spüren, wie stolz der alte Knabe war, sich solch edler Gewächse annehmen zu dürfen. Er fand es grausam, dass die Partei ihn daran hinderte, seiner geliebten Arbeit nachzugehen.
Als er unter den nächsten Orangenblätterschirm geklettert
war, sagte der Mann: »Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, mein Freund, aber Luang Prabang ist ein magischer Ort. Ich könnte Ihnen viele Geschichten erzählen.«
Die Sonne hatte die Hoffnung aufgegeben, und Siri wurde klar, dass er im Dunkeln würde zurückgehen müssen. Seufzend ließ er die Schere sinken. »Wie sind Sie hierhergekommen, alter Knabe?«
»Mit dem Boot.«
»Meinen Sie, Sie dürfen morgen noch einmal wiederkommen?«
»Nein. Es ist vorbei.«
Das klang nach mehr als einem bloßen Verbot der Gartenarbeit. Wenn dies tatsächlich sein letzter Besuch war, handelte es sich bei der Beschneidung wohl eher um einen Akt der Verzweiflung – oder der Rebellion. Siri trat aus dem schwarzen Schatten des Laubes und richtete den Blick gen Himmel. Schon näherte sich der Mond seinem Zenit.
»Dann fahren
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