Dr. Siri sieht Gespenster - Cotterill, C: Dr. Siri sieht Gespenster - Thirty-Three Teeth
Justizvollzugsbehörde morgens aufmacht, Doktor?«
17
DER MOND IST AUSGEGANGEN
Endlich hatte Rajids Augenbraue aufgehört zu bluten. Aus der Wunde war so viel Blut gespritzt, dass man damit mühelos den Nam-Phou-Brunnen hätte füllen können. Phosy hatte noch nie jemanden erlebt, der sein eigenes Blut so komisch fand. Rajid lachte sich fast kaputt, sodass Phosy gar nicht anders konnte, als in sein Gelächter einzustimmen. Vielleicht, überlegte Phosy, ist mit dem Blut ja auch der Wahnsinn aus seinem Körper gewichen. Vielleicht ist der Verrückte Rajid jetzt so normal wie jeder andere auch, und wir können uns wie zwei erwachsene Menschen über alltägliche Dinge unterhalten. Aber danach sah es ganz und gar nicht aus.
Er wickelte einen provisorischen Verband um Rajids Kopf, der nicht nur die Blutung stillte, sondern ihn obendrein in einen Sikh verwandelte. Er setzte den Inder in der Klinik ab, steckte der Aufnahmeschwester ein paar Kip zu und ließ dem diensthabenden Arzt ausrichten, die Wunde brauche etwa sieben Stiche. Erst als eine Patientin hinter ihm erschrocken aufschrie, bemerkte er, dass sein Rücken blutgetränkt war.
Als ihn der verrückte Inder angesprungen hatte, waren
sie so heftig mit den Köpfen zusammengestoßen, dass Rajid sofort zu bluten angefangen hatte. Sie waren zu Boden gestürzt, und Phosy versuchte vergeblich, seinen Angreifer abzuschütteln. Anfangs fürchtete er noch um sein Leben, bis ihm der ungewaschene Geruch in die Nase stieg und er das vertraute Kichern hörte. Da wurde ihm klar, dass es sich um keinen Überfall handelte. Es war ein Freundschaftsbeweis, eine Art Streich. Aber wer sich mit einem Menschen anfreundet, dessen Verstand auf einem fernen Planeten weilt, hat es vermutlich nicht besser verdient.
Als Phosy seinen Freund dazu überredet hatte, endlich von ihm abzulassen, war er bereits von oben bis unten voller Blut. Sie setzten sich auf den Brunnenrand, und Phosy verband die Wunde, während Rajid sein beeindruckendes Repertoire an Amphibienimitationen vorführte.
Phosy fuhr aufs Revier und zog sich ein frisches Hemd an. Vier oder fünf Polizisten lauschten gebannt seiner Mär von dem gigantischen Grizzly, den er furchtlos in die Flucht geschlagen hatte. Dann erzählte er ihnen die wahre Geschichte, und sie setzten ihn vor die Tür.
Etwa eine Stunde nach seinem ersten, fehlgeschlagenen Versuch hielt er von Neuem vor dem Ministerium. Er stellte seinen Motorroller ab und sah zum sechsten Stock hinauf. Er schien zu glühen wie die Heizelemente eines Toasters. Er machte vier Schritte nach rechts und schaute ein zweites Mal nach oben. Das Licht war verschwunden. Heute war die vorletzte Vollmondnacht. Der Mond hing groß und rund am wolkenlosen Himmel. Aus einem bestimmten Winkel betrachtet, spiegelte er sich in den Fenstern des Gebäudes. Jetzt war Vernunft gefragt, deshalb verzichtete er darauf, die vier Schritte zurückzugehen und ein drittes Mal nachzusehen.
Mit seinem Generalschlüssel öffnete er den Haupteingang und trat ein. Seine Schritte hallten durch das leere Foyer. Sämtliche Fensterläden waren geschlossen. Der Strahl seiner Taschenlampe war so schwach, dass er nur das erhellte, was sich unmittelbar vor dem Inspektor befand. Ringsum war alles stockfinster. Er suchte die Treppe und ging auf sie zu.
Plötzlich hörte er von oben ein Knarren, aber das waren vermutlich nur die Bodendielen, die sich nach einem arbeitsreichen Tag reckten und streckten. Er hastete treppauf. Die Stufen waren aus Kokosholz, und auch sie knarrten bei jedem Schritt.
In den ersten drei Stockwerken sah er sich flüchtig um, blieb aber nicht stehen. Das Mondlicht, das durch die ladenlosen Fenster fiel, warf lange, klauenbewehrte Schatten, die ihn nervös machten. Im vierten Stock drang mit einem Mal ein seltsames Geräusch an sein Ohr. Obwohl es nicht sehr laut war, wusste Phosy sofort, dass es nichts mit den natürlichen Leiden und Gebrechen eines alten Hauses zu tun hatte. Es klang melodisch.
Er schlich den breiten Flur entlang und leuchtete mit seiner Taschenlampe in jedes Büro. Bis auf eine waren alle Türen angelehnt. Er ging auf sie zu. Je näher er kam, desto deutlicher hörte er das Geräusch. Es handelte sich eindeutig um traditionelle Musik.Wäre es noch nicht so spät gewesen, hätte er angenommen, eine unachtsame Angestellte hätte vergessen, ihr Radio abzustellen. Doch der staatliche Rundfunk beendete sein Programm um neun, und bei der angespannten politischen Lage konnte
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