Dr. Stefan Frank - Halt dich an mir fest!
hatte ihr erzählt, dass er in diesem Zimmer gestorben war, doch das war es nicht, was sie davon abhielt. Nein, das Schlafzimmer war der privateste Raum ihres Vaters, und allein deshalb hatte sie sich bis jetzt nicht dort hinein gewagt.
Doch nun öffnete sie die Tür und betrat das Schlafzimmer. Dort blieb sie erst einmal stehen und schaute sich um, denn bei ihrem ersten Rundgang hatte sie lediglich einen flüchtigen Blick hineingeworfen.
Auch hier waren alle Möbel dunkel: das Bett, der mächtige Kleiderschrank, der Schreibtisch, der direkt vor dem großen Fenster stand, die beiden Bücherregale …
Isabell wurde ganz still. Irgendwie schien ihr Johannes’ Präsenz in diesem Raum übermächtig zu sein, viel stärker als im restlichen Haus. Sie fühlte sich ihm auf einmal ganz nahe.
Und dann erlebte die junge Frau eine Überraschung. Zwischen den beiden Regalen hing ein Bild, das ihr nicht gleich aufgefallen war. Ein Bild, das sie kannte … Es war eines ihrer eigenen Bilder!
Es war – untypisch für sie – eine Kohlezeichnung, die sie bei einem Urlaub in Südfrankreich angefertigt hatte. Mit ein paar kräftigen Strichen war das Rund der Arena von Méjanes angedeutet, in dessen Mitte ein kraftvoller Stier stand, den Kopf stolz erhoben.
Man hatte den Eindruck, dass er gleich mit den Hufen scharren und den jungen Männern, die ihm die Kokarde abjagen wollten, die zwischen seinen Hörnern steckte, hinterherstürmen würde. Denn der provenzalische Stierkampf war im Gegensatz zur spanischen Variante vollkommen unblutig.
Sie liebte dieses Bild. Eigentlich hatte sie es gar nicht hergeben wollen, doch der Galerist hatte sie schließlich dazu überredet.
Es war das erste Bild gewesen, das er verkauft hatte. Allerdings hatte er sich geweigert, ihr den Käufer zu nennen – der hätte darum gebeten, anonym zu bleiben.
Nun wusste sie, warum.
Hast du es auch so geliebt?, fragte sie in Gedanken. Wie schön, dass es nun wieder zu mir zurückgekehrt ist.
Isabell griff in die Tasche ihrer Jeans und holte Johannes’ Brief heraus. Bisher hatte sie stets gezögert, ihn zu lesen, doch nun schien ihr der richtige Moment dafür gekommen zu sein.
Sie setzte sich vor den Schreibtisch, öffnete bedächtig den verschlossenen Umschlag und nahm den Brief heraus.
Liebe Isabell,
lange habe ich nach den richtigen Worten gesucht, um diesen Brief zu beginnen, aber nun will ich einfach schreiben, was mir auf dem Herzen liegt.
Ich habe nicht mehr lange zu leben. Dr. Frank, mein Arzt, hat es mir vor Kurzem bestätigt. Ein Mann übrigens, dem man vertrauen kann und an den du dich sicherlich wenden darfst, wenn du mehr über mich erfahren willst. Er hat mich in den letzten Monaten gut kennengelernt.
Wie gern hätte ich dir einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden! Wie gern hätte ich mehr Anteil an deinem Leben gehabt. Ich werde es Jan nie vergessen, dass er dich quasi mit mir geteilt hat. Er hat mir so viel über dich erzählt, dass ich dich praktisch vor meinen Augen sehen konnte. Selten habe ich einen so grundanständigen und großzügigen Menschen wie ihn kennengelernt, und ich bin froh, dass er dich großgezogen hat. Wer weiß, ob ich dir ein so guter Vater gewesen wäre.
Es stimmt nicht, dass ich dich nicht haben wollte. Jan hat mir die Version deiner Mutter erzählt, und sie ist falsch, Isabell, so falsch, falsch, falsch! Ich hatte mich bereits von Lydia getrennt, bevor sie mir mitgeteilt hat, dass sie schwanger ist.
Ich war bereit, mich um dich zu kümmern – richtig um dich zu kümmern, nicht nur für dich zu zahlen –, doch das reichte ihr nicht. Sie hat darauf bestanden, dass ich sie heirate.
Als ich mich geweigert habe, hat sie geschworen, sie würde Mittel und Wege finden, mich für immer von dir fernzuhalten. Nie solltest du erfahren, wer dein Vater ist, nie sollte ich auch nur das geringste Recht an meinem Kind haben, nie sollte ich dich sehen.
Nun, sie hat ihren Schwur wahrgemacht.
Jan musste Lydia noch vor der Hochzeit schwören, dass er dir niemals sagen würde, dass du nicht seine leibliche Tochter bist. In all den Jahren hat er sich daran gehalten, obwohl er wusste, dass es nicht richtig war.
Als er dann erfuhr, dass sich sein Leben dem Ende zuneigte, wollte er, dass du die Wahrheit erfährst. Er hat geglaubt, er könne sein Versprechen damit umgehen, dass er dir einen Brief hinterlässt, in dem er dir endlich verrät, wer dein richtiger Vater ist.
Hoffnung stieg in mir auf, dass du nun den
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