Draakk: Etwas ist erwacht. (Horrorthriller) (German Edition)
anderen Situation wäre es ein geradezu anheimelnder Anblick gewesen, aber jetzt fragte sich Singer unwillkürlich, aus welchem Grund hier ein solches Lichterfest veranstaltet worden war. Wessen Seelen auf diese Weise erhellt werden sollten. Ihn beschlich eine düstere Ahnung, als er an den Wirt und seinesgleichen draußen vor der Kirche dachte.
Singers Blick fiel auf das enorme Holzkreuz und das leidende Gesicht des lebensgroßen Heilands. Dicke Blutstropfen auf einer schmerzverzerrten Stirn, aufgerissene Augen, die um Erlösung von unendlichen Qualen zu flehen schienen. Noch mehr Blut, an den Händen und Fußgelenken, durch die man schwere Nägel getrieben hatte. Eine Dornenkrone zierte das geschundene Haupt der Figur und über ihrem Kopf prangte die höhnische Verkündung das Kürzel INRI; IESVS NAZARENVS REX IVDAORVM - Jesus von Nazareth, König der Juden . Alles an diesem Bild sprach von Boshaftigkeit und Sadismus, und der Lust, sich daran zu ergötzen. War das die wahre Botschaft des Heilands gewesen? War er der Spiegel der wahren Neigungen der Menschheit zu Beginn eines neuen, düsteren Zeitalters? Sehet und erkennet Euch selbst? Und war die Prophezeiung dieses Zeitalters nun hier zu ihrer Erfüllung gekommen, in einem kleinen Dorf am Rande der Alpen?
Die Vorstellung, dass ein ganzes Dorf sonntags in dieser Kirche saß und mit leuchtenden Augen das Bild eines vor langer Zeit zu Tode gefolterten Mannes anbetete, bereitete ihm plötzlich Übelkeit und Kopfschmerzen. Er hatte nie wirklich darüber nachgedacht, doch in diesem Moment wurde ihm mit einigem Entsetzen klar, wie falsch diese Zeremonie schien. Esst dieses Brot, denn es ist mein Leib. Trinkt diesen Wein, denn er ist mein Blut … Blut.
Er wandte den Blick ab und ging zu den Bänken im Kirchenschiff, während Martin an einem schmalen Fenster neben der Tür Posten bezog, um zu beobachten, was draußen vor der Kirche geschah. Er hatte sich mit einem schweren, schmiedeeisernen Kerzenständer bewaffnet, der dort herumgestanden hatte. Wahrscheinlich keine besonders wirksame Waffe gegen das, was da draußen in der Dunkelheit lauerte, aber immerhin besser als gar keine Hoffnung, schätzte Singer.
Antonia und das junge Mädchen versuchten gerade, den Jungen dazu zu bewegen, ihnen seinen verletzten Arm zu zeigen. Dieser presste weiter hartnäckig die Rechte an seinen Körper und krümmte sich, als litte er furchtbare Bauchschmerzen, während dicke Tränen über sein pummeliges Gesicht rannen. Singer hoffte inständig, dass der Junge bei seinem halsbrecherischen Sturz vom Roller keine inneren Verletzungen davongetragen hatte. Wie viele Stundenkilometer mochte so ein kleiner Roller auf einer verschneiten Dorfstraße schaffen? Fünfundzwanzig, vielleicht dreißig? Es reichte wahrscheinlich immer noch aus, sich ernsthaft zu verletzen, wenn man es tatsächlich darauf anlegte. Er erreichte die Bank, auf der der Junge saß und ging vor ihm in die Knie, um dessen Arm zu betrachten.
Er blickte in ein schmutziges, verheultes Kindergesicht. Der Junge hörte unvermittelt auf zu weinen, als er Singer erblickte, dann streckte er ihm wortlos seine verletzte Rechte entgegen, während das Mädchen, unverkennbar seine Schwester, beruhigend im örtlichen Dialekt auf ihn einredete. Beide hatten das gleiche rundliche Gesicht mit den großen blauen Augen und der kleinen, schmalen Stupsnase, eingerahmt von wilden braunen Locken. Aber während das Mädchen damit süß aussah, wirkte es an dem Jungen irgendwie weichlich und kindhaft, ein Eindruck, der durch Rotz und Tränen noch zusätzlich unterstützt wurde.
Die zwei mittleren Finger seiner rechten Hand waren glatt gebrochen – schmerzhaft, so ein Bruch, das wusste Singer aus eigener Erfahrung, aber so schlimm, wie der Junge tat, war es nun auch wieder nicht. Singer würde die gebrochenen Finger schienen und nächste Woche würde er schon kaum noch daran denken. Falls es für den Jungen eine nächste Woche gab.
Singer riss ein längliches Stück Stoff aus seinem Hemd, das vorerst als Verband genügen würde, dann schaute er sich suchend nach einer Schiene für die gebrochenen Finger um. Sein Blick fiel auf die große Reisetasche zu Antonias Füßen. Sie oder Martin hatten den Rucksack von der Rückbank des Jeeps mitgenommen, als sie vor dem Gasthaus ausgestiegen waren. Und in der Tasche waren eine ganze Menge nützlicher Dinge, unter anderem auch solche, die man ganz ausgezeichnet zum Schienen von Knochenbrüchen verwenden
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