Draakk: Etwas ist erwacht. (Horrorthriller) (German Edition)
allmählich zu verziehen. Singer sammelte seine Kräfte erneut und gab den verklebten Schlitzen, die angeblich seine Augenlider waren, den mentalen Befehl, sich zu heben und furchtlos dem zu begegnen, was die Welt für ihn bereithielt.
Was auch immer das sein mochte.
Sein Mut wurde prompt mit einem stechenden Schmerz belohnt, als sich der grelle Lichtstrahl erneut in seine überempfindliche Netzhaut bohrte. Er stöhnte auf und seine Pupillen rollten schutzsuchend zurück in seine Augenhöhlen. Ein zuckendes Negativbild der Neonröhre, in die er geblickt hatte, gesellte sich zu seinen alten Freunden, den wabernden Schlieren. Beim nächsten Mal würde er vorsichtiger sein, dachte er, während das Ziehen in seinem Schädel langsam nachließ.
Er befand sich jedenfalls nicht mehr in der übergroßen Luxussuite des Park Hyatt Hotel, so viel stand fest. Diese hatte nämlich allerorten, sogar auf dem verschwenderisch ausgestatteten WC, eine angenehme und auf allerhöchste Ansprüche geschmacklicher Vollendung abgestimmte Beleuchtung – mit anderen Worten: Pufflicht. Dies und eine großzügig gefüllte Minibar waren nur zwei der unbestreitbaren Vorteile des Hamburger Luxushotels.
Ein dritter war das Personal. Diese vortrefflichen Menschen waren offenbar nach dem Grad der Teilnahmslosigkeit ausgesucht worden, zu der ihre Gesichter fähig waren. Vermutlich fanden die Bewerbungsgespräche für Portiers, Zimmermädchen und Hotelpagen in einer Art mittelalterlicher Folterkammer statt – diejenigen Anwärter, die Streckbank und Daumenschrauben am längsten ohne die geringste Regung über sich ergehen ließen, bekamen schließlich den begehrten Job. Oberster Foltermeister dieser hochnotpeinlichen Befragung würde ganz sicher Steiner sein, der stets übereifrige und dabei völlig wertneutrale Chefportier mit dem dünnen weißen Bleistiftbärtchen, das kokett auf seiner Oberlippe saß.
Steiner gehörte ohne Zweifel zur Elite seines empfindungslosen Berufsstandes. Er hatte Singer mehr als einmal von zwei überaus diskreten Pagen auf sein Hotelzimmer begleiten lassen, wenn dieser die Hotelbar überreich mit Spesengeldern beschenkt hatte. Singer neigte glücklicherweise nicht zum Pöbeln, wenn er etwas beschwipst war. Er tendierte jedoch gelegentlich dazu, Treppenstufen zu übersehen und sich in Zimmertüren zu irren. Weder in den Augen Steiners noch in denen seiner Gehilfen war auch nur der Anflug eines Lächelns zu sehen gewesen, als sie ihn nach oben geleitet (oder eher getragen) hatten.
Nach und nach setzten sich weitere Bruchstücke seiner lückenhaften Erinnerung zu mehr oder weniger sinnvollen Fragmenten des großen Puzzles zusammen. Wie in einem Film über eine in tausend Stücke zerbrechende Porzellanfigur, den man rückwärts und in Zeitlupe abspielt, hüpften die einzelnen Teile nach und nach an ihren angestammten Platz und fingen an, einen Sinn zu ergeben.
Singer erinnerte sich.
Zu Beginn des fraglichen Abends hatte er sich noch relativ leichtfüßig von seinem Hotelbett im Hyatt erheben können, um ein weiteres Mal zum Getränkevorrat in der Minibar hinüberzuschlendern.
Besonders weit war er dabei allerdings nicht gekommen, denn …
Ein Telefonat
S inger vermutete zunächst sein Handy als die Quelle des Klingelns und blickte sich suchend im Zimmer um. Vielleicht war es Antonia, die endlich auf eine der unzähligen Nachrichten auf ihrer Mailbox reagierte? Seit seiner Rückkehr nach Hamburg hatte er beinahe ununterbrochen versucht, sie zu erreichen, bislang ohne Erfolg.
Singer wurde schließlich auf der Sitzfläche eines kalbslederbezogenen Sessels fündig. Er griff sich das elegante Smartphone und drückte auf dessen Display herum, bis er irgendwann begriff, dass das Teil überhaupt nicht geklingelt hatte.
Das Gebimmel dauerte an und irgendwann kam Singer auf die Idee, zum Telefon des Hotelzimmers hinüber zu schauen. Diese beeindruckende Scheußlichkeit war ein klobiger Koloss aus Edelholz, den irgendein Witzbold von Designer zu allem Überfluss noch mit Klavierlack überzogen hatte.
Singer angelte nach dem Hörer und meinte, in dem kurzen »Ja?« seine Verärgerung über den späten Anruf ausreichend deutlich zum Ausdruck gebracht zu haben. Diese wurde vom anderen Ende der Leitung jedoch mit eben jener professionellen Gelassenheit quittiert, die nur der Chefportier des Park Hyatt zustande brachte.
»Dr. Singer, entschuldigen Sie bitte den späten Anruf. Ein Gespräch für Sie, ein Professor
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