Draakk: Etwas ist erwacht. (Horrorthriller) (German Edition)
dezenter als die Neonbeleuchtung zu seiner Zeit.
Hier hatte er Anna kennengelernt, sie hatten beide vor der Speisenausgabe angestanden und sich die ganze Zeit über angegrinst und über die einheitlich graugrüne Färbung des Essens lustig gemacht. Er hatte gewartet, bis auch sie an der Reihe war, dann waren sie gemeinsam zu einem der freien Tische herübergeschlendert. Am nächsten Abend waren sie im Kino gewesen, und eine Woche später hatten sie das erste Mal miteinander geschlafen. Und kurze Zeit später hatten sie sich ineinander verliebt. So einfach war das, damals.
Er war bereits Dozent und angehender Doktor gewesen, sie im letzten Semester ihres Studiums. Sie hatten sich in den folgenden Monaten an nahezu jedem erdenklichen Ort geliebt, je ausgefallener, desto besser. Hatten ihre Finger einfach nicht voneinander lassen können, waren völlig aufeinander abgefahren. Einmal hatten sie es sogar inmitten des (natürlich verlassenen) Hörsaals getrieben, das musste kurz vor seiner Doktorverteidigung gewesen sein. Gut möglich, dass ihn die Aktion seinen Kopf gekostet hätte, wären sie entdeckt worden. Oder zumindest seinen Job an der Uni. Ganz bestimmt aber seine Promotion. Er bezweifelte, dass ihn das von irgendetwas abgehalten hätte, damals im Hörsaal mit der gerade zweiund zwanzigjährigen Anna, ihrem unglaublichen Grübchen-Lächeln und noch ein, zwei anderen schier unglaublichen Eigenschaften, die einem Mann, angehender Doktorand hin oder her, mit Leichtigkeit den Verstand rauben konnten.
Er atmete tief ein, zog die Hände aus den Seitentaschen der dicken Daunenjacke und drückte die schwere Glastür zur Mensa auf.
Licht, Wärme und der Lärm durcheinander schnatternder Studenten strömten auf ihn ein. Es war nicht leicht, Antonia in dem bunten Gewimmel zu finden. Seine Erscheinung hingegen zog sofort die Aufmerksamkeit der Studenten auf sich. Man nahm wohl an, er sei ein Penner, der sich auf dem Weg zum Sozialamt verirrt hatte. Er konnte es ihnen nicht verübeln.
Schließlich entdeckte er Antonia, die mit ein paar ihrer Mitstudenten (sie hatte Freunde , das war gut!) an einem Tisch am Fenster saß. Der Anblick versetzte seinem Herzen einen kleinen, schmerzhaften Stich. Sie wirkte größer, als er sie in Erinnerung hatte, fast erwachsen. Und erwachsen war sie in der Tat geworden in diesen anderthalb Jahren, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Gott, sie sah ihrer Mutter so verdammt ähnlich, es war fast unheimlich.
Als sie ihn erblickte, stand sie auf und warf hastig ein paar Schreibutensilien in ihre Tasche. Dabei streifte ihr langes, blondgelocktes Haar den Tisch. Sie warf es mit einer sanften Bewegung über ihre Schultern zurück, dann schnappte sie sich ihre Tasche und einen Riesenberg Klamotten, der aus wenigstens drei ineinander gewickelten Kapuzen-Sweatshirts und einer dicken Winterjacke bestand. (Noch etwas, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte – auch Anna war ständig kalt gewesen.) Sie raffte ihre Kleidung zusammen, verabschiedete sich von ihren drei Freundinnen, die kaum verhalten grinsend in Singers Richtung starrten und sicher jeden Moment zu tuscheln beginnen würden. Dann kam sie herüber und Singer nahm nur am Rande wahr, dass inzwischen fast alle Gespräche an den umliegenden Tischen verstummt waren und wirklich jeder in seine Richtung blickte.
Antonia sah ihm eine Weile mit ernster Miene, aber in keiner Weise wertend ins Gesicht. Möglicherweise sogar ein wenig zu neutral. »Hey, Paps«, sagte sie leise, dann deutete sie auf einen der wenigen freien Tische. Keine Umarmung, kein »Hey, wie geht’s dir?« Kein »nach Hause«.
Singer schälte sich aus seiner Daunenjacke,
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