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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Jumar gehorchte, und der Mönch lächelte. »So ist es besser. Wie soll ich sonst den Ausdruck erkennen, der in deinen Augen liegt? Niemand, der ehrlich ist, verbirgt den Ausdruck seiner Augen vor einem alten Mann.«
    »Aber –«, stammelte Jumar.
    Der Mönch schnitt die Frage in der Luft ab wie ein widerstandsloses Seidenband.
    »Deine Augen suchen«, sagte er. »Und sie werden finden. Stör dich nicht daran, dass ich sie sehe. Ich sehe sie nicht mit dem Blick, sondern mit dem Kopf. Ich habe euch auch kommen sehen.«
    »Ihr ... ihr habt uns kommen sehen?«
    »Ich sehe vieles«, erwiderte der Mönch mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. »Ihr habt die Geister des Windes gehört und eure Angst tief in euch verborgen. Ihr seid durch den Schnee gegangen und durch die Luft, auf dem Weg, der kein Weg ist. Ihr seid einem Drachen begegnet, aber eure Kugeln konnten ihm nichts anhaben. Ist es nicht so?«
    »Ja«, sagte Niya, »so ist es.«
    »Ihr habt alles riskiert«, fuhr der Mönch fort und rückte seine Hornbrille zurecht. »Jede Minute hätte die letzte sein können für euch.«
    »Es gab keine andere Möglichkeit«, murmelte Christopher.
    »Nein«, antwortete der Mönch. »Vielleicht nicht. Ihr seid die Ersten, die seit langer, langer Zeit hier heraufkommen. Das Kloster ist in Vergessenheit geraten. Nur der Mann, der das Flugzeug steuert, kennt den Weg durch die Lüfte.«
    Ein Flugzeug also, dachte Christopher. So transportieren sie ihre Vorräte.
    Wieder hüllte die Stille sie ein. Und schließlich sagte der alte Mann: »Du, dessen Augen suchen. Sage mir, was ist es, das sie hier finden wollen.«
    Und dann dauerte es eine ganze Weile, bis Jumar sprach. Er, der immer Worte hatte, schien plötzlich nicht die richtigen zu finden. Beinahe befürchtete Christopher schon, er wäre gar nicht mehr im Raum und vor ihm säße nur eine zurückgelassene, leere Ansammlung an Kleidern.
    »Ich ... ich bin ...«, begann Jumar und riss sich endlich zusammen, »... ich bin gekommen, um Euch zu fragen, was damals wirklich geschehen ist. Damals, als Ihr nach Kathmandu hinunterkamt und mit meiner Mutter spracht.«
    Da seufzte der alte Mönch tief und schwer – ein Seufzen, tiefer als der tiefste Abgrund und schwerer als der schwerste Fels. Er nahm seine Brille ab und begann, sie mit einer Ecke seines orangefarbenen Saums zu putzen, und schließlich fragte er; »Warum willst du das wissen?«
    »Ich habe beschlossen, sichtbar zu werden«, antwortete Jumar ernst. »Damit die Dinge sich ändern. Mein Vater sitzt in seinem Garten und hat die Menschen außerhalb der Gartenmauern vergessen. Aber ich habe sie nicht vergessen. Ich habe sie gerade erst kennengelernt. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich endlich mit ihnen sprechen kann wie einer von ihnen.«
    »Eine weise Entscheidung«, erwiderte der Mönch. »Fast zu weise für einen, der so jung ist wie du.« Er lächelte. »Ich will ganz ehrlich sein. Ich bewundere euren Mut. Ihr seid diesen Weg heraufgekommen, ohne zu wissen, dass es ein Ziel gibt, zu dem er führt. Ihr habt nicht gezögert, trotz des Schnees, trotz der Drachen. Der Weg zu diesem Kloster ist nicht ohne Grund so schwer. Der Pfad führt nicht ohne Grund durch die Luft. Nur wer genug Mut und genug Vertrauen hat, kann das Kloster erreichen. Es ist mehr als vierzehn Jahre her, dass jemand uns gefunden hat. Selbst die Jungen, die hier heraufkommen, um zu lernen, bringt der Mann mit dem Flugzeug zu mir. Ihr aber seid den Weg durch das Nichts gekommen. Und deshalb werde ich euch die Wahrheit erzählen, deretwegen ihr gekommen seid.«
    Ein Gong ertönte gedämpft vom Hof her, und der alte Mönch setzte seine Brille wieder auf.
    »Zeit für das Abendgebet«, erklärte er. »Zeit für das Gebet und den Reis. Kommt, und esst mit uns. Danach werden wir uns über die Vergangenheit unterhalten.«
    Er erhob sich und ging voraus, und Christopher stellte fest, dass er sich für sein Alter erstaunlich flink bewegte. Am liebsten wäre Christopher für immer, immer und ewig, auf der Reisstrohmatte in jenem behaglichen, warmen Raum sitzen geblieben und hätte sich nie wieder gerührt, doch er ahnte, dass das nicht möglich war. So folgte er zusammen mit den anderen den raschelnden Falten des Mönchsgewandes, und gleich darauf betraten sie gemeinsam den Gebetsraum des Klosters.
    Auch hier waren die Wände bedeckt mit bunten Malereien, hölzerne Säulen prangten mit farbenprächtigem Anstrich, und gemusterte Teppiche bedeckten den

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