Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
betrachtete die reglosen Flügel auf Christophers Hand nachdenklich.
    In diesem Moment tönte ein Schrei vom Spielfeld der Mönche her, aber es war nicht der triumphierende Schrei nach einem geschossenen Tor. Es war ein Aufschrei der Überraschung: Einer der Jungen hatte sie bemerkt, und nun standen sie alle wie angewachsen und starrten zu ihnen herüber.
    »Jumar«, wisperte Niya. »Dein Gesicht!«
    »Was?«, fragte Jumar.
    »Du hast keines«, antwortete sie leise. »Zumindest kein sichtbares. Sie werden sich zu Tode erschrecken. Tu etwas.«
    Jumar schlug den Kragen der Jacke über dem Kragen des Pullovers ein wenig höher, zog den Schal davor und auch die Mütze tiefer. Keine Sekunde zu spät: Denn jetzt löste sich die Starre der Fußballspieler, und kurz darauf waren sie umgeben von tiefroten Roben und neugierigen Augen, und Dutzende von Händen streckten sich aus, um den tarngrünen Stoff ihrer Kleidung zu berühren. Vermutlich hatten sie noch nie solche Kleider gesehen. Sie kicherten und flüsterten hinter vorgehaltenen Händen miteinander, und Christopher schenkte ihnen das schönste Lächeln, das er zustande bekam.
    »Wer seid ihr?«, wollte der größte der Jungen wissen. Er überragte Christopher um einen guten halben Kopf. »Woher kommt ihr?«
    »Wir kommen von einem Ort, wo seit Langem niemand mehr in der Sonne Fußball spielt«, antwortete Niya, »und wir sind lange, lange gewandert, um einen Ort zu erreichen, in dem etwas so Wunderbares noch möglich ist.«
    Ein Lächeln breitete sich über das Gesicht des Jungen.
    »Dann seid ihr willkommen«, sagte er.
    »Ihr seid sicher müde!«, rief ein ganz kleiner Junge. »Und ihr habt bestimmt Hunger! Wollen wir sie nicht zu unserem Meister führen? Ich, ich kann sie führen!«
    »Und ich! Und ich! Und ich!«, riefen alle durcheinander und drängten sich nach vorne.
    Der größte Junge brachte sie mit einer Bewegung seiner Hand zum Schweigen.
    »Ich bin der Älteste, und es ist meine Aufgabe, den Fremden unser Kloster zu zeigen«, erklärte er würdevoll. »Ihr könnt hierbleiben und das Spiel beenden. Bis zum Abendgebet ist noch eine halbe Stunde Zeit.«
    Er nickte ihnen zu, und sie folgten ihm den Hang hinauf. Doch als Christopher sich einmal umdrehte, standen die Jungen noch immer unbeweglich auf dem Spielfeld und sahen ihnen nach, und es war klar, dass keiner von ihnen Lust hatte, bis zum Abendgebet etwas anderes zu tun, als über die seltsamen Fremden zu reden, die auf dem Berg aufgetaucht waren.
    Hinter den Mauern des Klosters wuchsen Blumen. Blumen, hier im Schnee. Blumen in blau angestrichenen Metallkanistern. An manchen Stellen konnte man noch den Aufdruck sehen – einst hatten die Kanister Pflanzenöl enthalten.
    Aber wenn es keinen Weg auf den Fishtail gab, dachte Christopher, wenn es nur jene metallenen Haken gab, wie konnten sie Kanister voller Öl heraufbringen? Wovon lebten sie?
    Wie waren die Kinder heraufgekommen?
    »Wartet hier«, sagte der Junge. »Ich werde sehen, ob der Meister Zeit für euch hat.«
    In diesem Moment verruschte Jumars Schal, der bis jetzt das Gesicht verborgen hatte, das nicht da war. Der junge Mönch starrte ihn an, und Christopher betete im Stillen und in einer ihm unbekannten Religion, der Junge möge seinen Augen nicht trauen und das Ganze für eine optische Täuschung halten. Aber in der Erziehung junger buddhistischer Mönche haben optische Täuschungen keinen Platz.
    »Dachte ich mir doch, dass etwas nicht stimmt«, wisperte der junge Mönch. Eine Weile sagte keiner etwas. Es gab nichts zu sagen. Unerklärliche Dinge kann man nicht erklären.
    »Der Meister sagt, ich kann es noch weit bringen«, murmelte der Junge. »Und dass ich Dinge sehen werde, die andere nicht sehen. Aber er sprach nie davon, dass ich Dinge nicht sehen würde, die andere sehen ...«
    Auch die anderen sehen sie nicht, dachte Christopher. Deshalb sind wir hier. Weil die Menschen im Allgemeinen zu wenig sehen.
    Aber das sagte er nicht laut. Laut sagte er: »Erzähl keinem davon.«
    Der Junge nickte. Dann ließ er sie stehen und überquerte den Hof, um in der Seitentür eines der Gebäude zu verschwinden, die sich hinter der Mauer aneinanderdrängten wie eine kleine Herde gepflegter weißer Schafe. Sein Gang war ein wenig unsicher geworden. Natürlich würde er erzählen, später, viel später. Und zu den tausend Gerüchten des Himalaja würde ein tausendunderstes hinzukommen. Aber im Himalaja sind die Gerüchte ein Teil des Lebens.
    Nicht weit von

Weitere Kostenlose Bücher