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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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dem Platz, an dem Christopher, Jumar und Niya standen, gab es an der Mauer ein Waschbecken, und darüber hing in einem einfachen Holzrahmen an der Wand ein gleißender Flecken Sonnenlicht. Aber nein: Es war ein Spiegel.
    Christopher trat näher und sah hinein.
    Und er erschrak. Der ihm aus dem Spiegel entgegensah, war ihm unbekannt. Er hatte tief eingesunkene Augen, und in einem von ihnen waren die Äderchen geplatzt, sodass die äußere Kante rot leuchtete statt weiß. Die braunen Haare hingen wirr um das Gesicht im Spiegel herum, und eine Schicht von Staub und Dreck bedeckte seine Haut, die Wangen wirkten mager und kantig, und das Kinn bedeckte ein leichter, gerade wahrnehmbarer Flaum.
    Hinter ihm im Spiegel tauchte noch ein Gesicht auf – ein Gesicht, das er kannte. Aber nun erst merkte er, dass es dem seinen ähnlich sah: Niya. Sie waren gleich dreckig, gleich zerzaust, steckten in den gleichen grünen Kleidern.
    »Ich sehe aus wie du«, sagte Christopher und lächelte.
    Und da, mit einem Mal, sah er jemand anderen im Spiegel: Arne. Es war wahr. Er hatte Arnes Lächeln. Und das Gesicht, das dieses Lächeln lächelte, war nicht länger das Gesicht eines Kindes. Er hatte begonnen, erwachsen zu werden.
    »Ich wünschte, ich könnte mich ebenfalls in einem Spiegel betrachten«, seufzte Jumar hinter ihnen. »Ich wünschte, ich könnte sagen: Ich sehe aus wie du. Oder wenigstens: Ich sehe aus wie ich. Aber ich weiß überhaupt nicht, wie ich aussehe! Die Leute, mit denen wir auf unserer Reise gesprochen haben, sehen alle dich vor sich, Christopher, wenn sie vom Kronprinzen Nepals hören.« Er schwieg eine Weile. »Und vielleicht ist es besser so«, sagte er kleinlaut. »Vielleicht sehe ich fürchterlich aus. Es fühlt sich nicht so an, aber vielleicht habe ich eine krumme Nase und schiefe Zähne und –«
    »Ach was«, sagte Christopher und lachte. »Die Kronprinzen in den Märchen sind ausschließlich schöne, junge Männer mit geraden Nasen, und ihre Zähne sind durchweg tadellos.«
    In diesem Moment kehrte der Junge zurück. Er warf einen schnellen Blick zu Jumar, der den Schal wieder vors Gesicht gezogen hatte, und sah genauso rasch wieder weg.
    »Der Meister wird euch empfangen«, verkündete er mit großer Geste. Er schien seine Aufgabe zu genießen, auch wenn er noch immer Angst vor dem Unsichtbaren, Unerklärlichen, Unheimlichen hatte, was mit dieser Aufgabe in sein Leben getreten war. »Vor dem Abendgebet bleiben nicht viele Minuten, doch er wird euch empfangen. Das ist eine große Ehre. Folgt mir.«
    Sie überquerten den Hof und betraten einen kahlen, quadratischen Raum, dessen einziges Mobiliar aus einigen Reisstrohmatten auf dem Boden bestand.
    Für einen Augenblick dachte Christopher an den kahlen Raum des großen T zurück, doch bis auf die Abwesenheit der Einrichtung hatten die beiden Räume nichts gemeinsam.
    Der kahle Raum des großen T hatte nüchtern und abweisend' gewirkt, als störte jeder, der ihn betrat.
    Dieser Raum sprach eine andere Sprache: Er war kahl, damit der Besucher den nötigen Platz hatte, um sein Herz auszubreiten.
    Mitten darin saß mit gekreuzten Beinen auf einer der Strohmatten ein alter Mönch. Es war schwer zu sagen, wie alt er war:
    Er trug eine große, eckige Hornbrille, sein weißer Bart floss vom Kinn in sanften Wellen herab bis auf den Boden, und sein Kopf war kahl geschoren wie die Köpfe der Jungen draußen im Schnee.
    Der, der sie gebracht hatte, entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung, und hinter ihm klappte die Tür ins Schloss.
    Christopher und Niya verbeugten sich ebenfalls.
    Die Stille im Raum umgab sie wie klares Wasser. Es war keine schlechte Stille: eine Stille wie ein Haustier, freundlich und wartend.
    »Setzt euch«, sagte der alte Mönch und strich die orangefarbenen Tücher über seinen Knien glatt. »Hier, mir gegenüber.«
    Sie gehorchten, und erst als Christopher saß, merkte er, wie erschöpft er war. Die Erschöpfung schwappte über ihn hinweg wie eine riesige Welle, und er musste mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, sich einfach auf den Boden fallen zu lassen und reglos dort liegen zu bleiben. Eine angenehme Wärme erfüllte den Raum, obwohl nirgends ein Feuer darin glomm.
    Es war, als ginge die Wärme von dem alten Mönch in seinem orangefarbenen Gewand aus.
    Er sagte lange nichts.
    Er musterte Christopher, dann musterte er Niya, und dann musterte er das Gesicht unter der Mütze, das niemand sah.
    »Nimm den Schal ab«, sagte er sanft.

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