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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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die sonst immer traf?
    Welch ein Glück er gehabt hatte! Hätte der Drache seine Flugrichtung auch nur ein winziges bisschen geändert, die bronzene Statue eines unsichtbaren Kronprinzen hätte den Luftweg auf den Machapuchare für immer blockiert.
    Auch wenn vermutlich niemand sie gesehen hätte.
    Christophers Hände schmerzten, und er war sich sicher, es dauerte nicht mehr lange, bis er loslassen musste. Er versuchte, an alles zu denken, was ihm Kraft gab.
    Er dachte an Arnes Gesicht auf dem Foto hinter dem Nachrichtensprecher. Er dachte an seine Mutter, die so klein ausgesehen hatte im Traum. Er dachte an Jumar, der sagte, er bräuchte seine Hilfe. Er dachte an Niyas Hände und an jene kalte Nacht im Schnee vor der geschmolzenen Stadt. Ihre Lippen. Ihr wirres Haar, das sich anfühlte wie das Fell eines Tieres. Die Töne ihrer Gitarre. Ihre Worte. Ihre Stimme ...
    »Wir sind da«, sagte Niyas Stimme, und er blinzelte ungläubig.
    Vor ihm lagen die letzten beiden Haken. Dahinter ging der Pfad weiter, beinahe scheinheilig, als hätte er niemals aufgehört. Als Christophers Füße ihn berührten, war er so erleichtert, dass er am liebsten einfach zu Boden gefallen und dort sitzen geblieben wäre.
    Niya legte den Finger an die Lippen, und er lauschte.
    »Was ist?«, flüsterte Jumar, der nun wohl ebenfalls auf dem ebenen Pfad stand.
    »Psst! Hört doch«, wisperte Niya. »Stimmen!«
    Und dann hörte es auch Christopher.
    Von ferne drangen Stimmen zu ihnen, helle, hohe Stimmen, und er vernahm Gelächter.
    »Vielleicht träumen wir«, sagte er. »Vielleicht ist es gar nicht wahr.«
    Niya warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Sch, sch«, machte sie. »Nun sei doch einmal optimistisch! Ich würde sagen: Wir haben es geschafft.«
    »Was geschafft?«, fragte Christopher misstrauisch.
    »Sie zu erreichen.«
    »Wen – zu erreichen?«
    »Das«, antwortete sie, »werden wir sehen, wenn wir um diese Wegbiegung gehen.«

Jumar, sehend
    Ja, und dann sahen sie es. Es war ganz erstaunlich.
    Christopher hätte hinter der Wegbiegung so ziemlich alles erwartet – aber nicht das, was sie dort fanden.
    Die senkrechte Felswand hörte abrupt auf, und sie stiegen einen verschneiten Hang hinauf, und dort, auf einer ebenen Fläche über ihnen, war eine Gruppe von kleinen Jungen in tiefroten Gewändern vertieft in ein Fußballspiel.
    Christopher blinzelte, aber sie spielten wirklich Fußball. Am Rand des Spielfeldes blieben sie stehen, und er sah auf Niyas Gesicht die gleiche Verwunderung, die auch er fühlte.
    Vier hölzerne Pfosten markierten die Tore zu beiden Seiten, und der Fußball war kein Fußball, sondern eine eng gewickeltes, buntes Stoffknäuel. Aber es konnte keinen Zweifel daran geben, was diese Jungen taten. Die weiten, dunkelroten Roben kamen ihnen beim Rennen immer wieder in die Quere, und manchmal fiel einer der Spieler der Länge nach in den Schnee. Dann lachte er über das ganze junge Gesicht, als wäre dies das Komischste, was ihm je passiert war. Die Köpfe der Jungen glänzten kahl geschoren, und an den Füßen trugen sie Sandalen.
    Christopher schätzte den kleinsten der Spieler auf vier oder fünf Jahre; die beiden ältesten mochten etwas älter sein als er, und dazwischen waren alle Altersgruppen vertreten.
    »Mönche«, flüsterte Niya.
    Da erst sah Christopher das Kloster, das noch ein Stück weiter oben am Hang lag, direkt unter der Spitze des Fischschwanzes ohne Fisch. Es glich einem Kloster, dessen Foto er in dem Bildband gesehen hatte, aber vermutlich sahen alle Klöster ähnlich aus. Hinter einer strahlend weißen Außenmauer erhob sich seine Kuppel, die Stupa, ebenso weiß in den blauen Berghimmel, und Reihen bunter Gebetsfahnen liefen von der Spitze aus nach unten wie bei einem Zelt. Buddhas gemalte Augen begrüßten die Wanderer von dort oben mit einem sanfte Lächeln, und es war Christopher, als zwinkerten sie – ganz kurz nur, doch es war vermutlich das helle Licht hier oben, das ihm Dinge vorgaukelte.
    Die jungen Mönche waren so vertieft in ihr Spiel, dass sie die Fremden lange nicht bemerkten.
    Und die Fremden standen lange – standen und schauten und sogen den Frieden jener merkwürdigen Szene tief in sich ein.
    Christopher streckte die Hand aus und holte die leuchtend blaue Feder aus Niyas Kapuze.
    Doch es war keine Feder.
    »Ein toter Schmetterling«, stellte er verwundert fest. »Er muss irgendwo in einer Falte der Drachenhaut verborgen gewesen sein, und deine Kugel hat ihn gelöst.«
    Niya

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