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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Holzboden.
    Hier, mitten im Schnee, musste das Kloster das einzige bisschen Farbe sein, das die Drachen finden konnten – und was für eine Explosion der Farben es war! Es winkte mit seinen vierfarbigen Gebetsflaggen auf der Kuppel der Stupa, mit seinen Blumentöpfen, mit den tiefroten Roben der jungen Mönche ... Wie kam es nur, dachte Christopher, dass die Drachen es verschonten?
    Sie setzten sich zwischen die Mönche auf den Boden, und das Abendgebet und das Abendessen waren in Wirklichkeit eines: Christopher beobachtete fasziniert, wie die Jungen in ihrem unverständlichen Singsang mit der einen Hand eine Schriftrolle hielten, deren Worte sie ablasen, und zwischendurch mit der anderen den Reis auf den niedrigen Pulten vor sich zu Bällen rollten. Das Murmeln erfüllte den Raum wie das Summen eines Bienenstocks, und es hatte etwas Beruhigendes, beinahe Einschläferndes.
    Christopher überlegte, was wohl geschehen würde, wenn er den alten Mönch fragte, ob er hierbleiben könnte. Er würde sich eine rote Robe anziehen, eine gelbe Kordel um den Bauch binden und das zerzauste Haar abscheren. Er würde lernen, die Texte auf den Schriftrollen zu lesen – und dann säße er hier, murmelnd, essend, und draußen im Schnee würde er mit den anderen Fußball spielen, Tag für Tag, und die Sonne schiene über die Berge, und nichts Schlimmes könnte ihm je mehr passieren. Verlockend.
    Aber nein. Nein, nichts von alldem würde ihm helfen, Arne zu befreien.
    So aß er den Reis der Mönche und trank ihr kaltes, klares Wasser und hörte ihren Gebeten zu und blieb ein Fremder.
    Der Schnee spiegelte bereits das Licht der Sterne wider, als der alte Mönch sie endlich wieder über den Hof führte, zurück in den Raum mit den Reisstrohmatten. Dort entzündete er eine Petroleumlampe, die er in die Mitte des Raumes stellte.
    »Es wird Zeit«, sagte er, »Zeit für die Wahrheit, deretwegen ihr gekommen seid. Aber die Wahrheit erzählt sich schlecht. Alles, was erzählt wird, wird zu einer Erzählung, und es ist nicht länger wahr. Ich möchte, dass ihr es selbst seht.«
    »Es selbst... seht?«, echote Jumar verständnislos.
    »Ja«, sagte der Mönch. »Setzt euch, kreuzt die Beine, und schließt die Augen.«
    Sie gehorchten, und Christopher dachte daran, wie sie einmal im Sportunterricht meditiert hatten. Der Sportlehrer hatte fürchterliche, eintönige und zugleich nervtötende Musik aufgelegt, und Christopher war nach fünf Minuten eingeschlafen. Hier war es anders.
    Es gab keine Musik. Nur jene besondere Stille, die er schon zuvor in dem Raum bemerkt hatte.
    »Haltet die Augen nach außen geschlossen«, sagte der Mönch leise, »und öffnet sie nach innen. Dann werdet ihr sehen.«
    Christopher hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Er saß da, die Augen fest geschlossen, und spürte die Müdigkeit in sich, schwer und bleiern. Und gerade als er dachte, er würde wieder einschlafen, fühlte er, wie sie ihn verließ. Sie flog davon – wie ein Vogel, der seine Schwingen ausbreitet und sich in die Luft erhebt –, flog davon und ließ Christopher alleine zurück, alleine und hellwach.
    Und dann formte sich ein Bild vor ihm. Er träumte nicht; er wusste genau, dass er nicht träumte, aber da war ein Bild, bunt und chaotisch –wie in einem Kaleidoskop wirbelten Farben und glitzernde Scherben umher, legten sich schließlich –
    eine Stadt.
    Ihre Häuser hatten hohe, hölzerne Balkone, von wo aus sich Leinen mit flatternder Wäsche über die engen Gassen spannten, die Dächer waren mit rötlichen Schindeln gedeckt, und dazwischen glänzte regenfeuchtes Wellblech in der Sonne. Christopher sah Kinder in schlammigen Pfützen spielen und Hunde vor Haustüren liegen, sah bunte Stoffe ausgebreitet vor Geschäften hängen, Glocken, Gebetsfahnen, Kleider, Metallwaren, Plastikschüsseln, Versatzstücke von Rohren, Götterbilder, Seidenkissen, Räucherstäbchen, Holzfiguren, Tablettenkartons, Maggi -Instant-Nudel-Packungen, Wollhandschuhe, Regenschirme, Gebetstrommeln, bestickte Teppiche – und Fahrradrikschas, die sich durch die unebenen Straßen quälten, hupende Autos, Räder, Fußgänger, Straßenverkäufer, Alte, Junge, Lahme, Bettler –
    Kathmandu.
    Alles in der Stadt schien zum gleichen Ort unterwegs zu sein, einem Ort in der Mitte der Stadt, wo es sich staute, wo das Chaos der Straßen sich verdichtete, wo nichts mehr weiterging, die Masse stockte, lange Hälse machte – es war, als stünde er mitten in der Menge und schwebte gleichzeitig

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