Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
ihm folgte Arne. Und in jenem Augenblick pendelten die Köpfe der silberblauen Drachen zum letzten Mal von links nach rechts und wieder zurück. In jenem Augenblick entschieden sie sich, zufällig vielleicht, grundlos, ihren Posten zu verlassen. In jenem Augenblick breiteten sie ihre schillernden Schwingen aus und erhoben sich mit der ganzen Eleganz des Verderbens in die Luft, und ihre großen, dunklen Schatten schwebten unter ihnen über die Schlucht. In jenem Augenblick –
    Warum ging Christopher voraus? Warum, wenn sonst immer Arne vorausgegangen war?
    Warum warteten sie nicht noch einen Moment?
    Und warum sahen sie Jumars verzweifelte Zeichen nicht?
    Warum verstand Christopher den Schrei auf Niyas Gesicht nicht?
    Er spürte den Wind – den Wind von Flügeln in der kalten Luft, die über sie strichen. Flügel, so nah, dass sie sie beinahe streiften. Aber nur beinahe.
    Was sie streifte, war der Schatten jener Flügel. Ein tödlicher Schatten.
    Christopher hob den Kopf – er begann, den Kopf zu heben. Das blausilberne Schillern verfing sich in seinem Augenwinkel, doch ehe er den Drachen wirklich sah, sah er den Schatten über Arne gleiten. Die Sonne trat durch die Schneeschleier hervor, und er sah das bronzene Glitzern in ihrem Licht. Und dann verlor das, was hinter ihm auf der hölzernen, geländerlosen Brücke stand, das Gleichgewicht und fiel.
    Christopher taumelte, griff nach etwas – nach was griff er? Nach Arne? Oder nach etwas, das Arne gewesen war? Er fand sich auf dem Bauch liegend wieder: Hatte er genau das nicht eben schon einmal erlebt? Aber jetzt war es nicht Schnee, in dem er lag, jetzt war es ein hartes Brett, und die Finger, die sich um seine schlossen, waren aus Bronze.
    Er sah hinab.
    Während über ihm der Drache in der Ferne verschwand, spielte unter ihm das grausame Sonnenlicht auf kaltem Metall.
    Das Entsetzen packte Christopher wie eine Faust. Er wollte loslassen, wollte das Ding, das er da festhielt, nicht mehr festhalten: Nein, das dort, das war nicht Arne. Das war etwas Fremdes, etwas, das er nicht kannte, etwas Hohles, Gefühlloses. Etwas, das ihn in die Tiefe zog – und er konnte nicht einmal ihren Grund sehen, so tief war die Tiefe. Was hohle Bronze für ein Geräusch machte, wenn sie unten auf harten Felsen schlug? Würde sie zerbersten? War sie wirklich hohl?
    Aber da war diese Hand, die genau aussah wie Arnes Hand, diese Hand, die er im Fallen gepackt hatte. Er brachte es nicht übers Herz, sie loszulassen.
    Und er zog die Figur aus hohler, kalter Bronze an dieser Hand hoch, zog sie hinauf auf das Brett, kämpfte mit seinem Gleichgewicht und gewann den Kampf. Schließlich robbte er rückwärts, vorsichtig, millimeterweise, und er erreichte das Ende des Brettes, erreichte festen Boden und eisigen Schnee: in den Armen eine Bronzestatue.
    Und dann schloss er die Augen und lag ganz still im Schnee und konnte nicht glauben, was geschehen war.

Jumar, fort
    »Christopher«, sagte eine Stimme über ihm, später, viel später. »Christopher! Es ist in Ordnung. Du musst jetzt aufstehen. Du kannst nicht ewig hier liegen bleiben.«
    Er hörte die Stimme – es war Jumars Stimme. Aber er reagierte nicht. Es war keine Kraft mehr in ihm, um zu reagieren. Alles war sinnlos geworden, überzogen mit einer Schicht aus glänzender, gefühlloser Bronze – als wäre das Metall in ihm selbst, in seinem Herzen, in seinem Kopf...
    »Christopher! Du kannst doch nicht einfach hier erfrieren! Es ist in Ordnung. Es ist nicht deine Schuld. Bitte, wir müssen weiter!«
    Er schlug die Augen auf. Jumars Gesicht schwebte über ihm, hinter sich einen lächerlich blauen Sonnenhimmel in der klaren Luft.
    Und als er diesen blauen Himmel sah und wütend auf ihn wurde, löste sich Schritt für Schritt die Starre in seinem Herzen und in seinem Kopf und machte einer Erinnerung Platz: keiner Erinnerung an Arne damals. Einer Erinnerung an Worte. Die Worte einer Frau in einer dunklen Hütte, an einem Abend vor scheinbar unendlich langer Zeit.
    »Die Frau in jenem Dorf, sagte er leise. »Sie haben ihre Statue hinaus aufs Feld gebracht, weil sie ihnen unheimlich war. Und dann kam der Drache wieder und hat sie gestreift. Und der Mönch ... was hat der Mönch gesagt?«
    »Du meinst –?«, fragte Jumar. »Was die Drachen verwandeln, können sie auch wieder zurückverwandeln?«
    Christopher nickte. Und dann setzte er sich abrupt auf. »Die Schuppen auf ihren Flügeln«, sagte er, lauter. »Damals wussten wir nicht, von was er

Weitere Kostenlose Bücher