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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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sprach. Aber jetzt, Jumar! Jetzt wissen wir es! Es sind die Schuppen auf den Flügeln der Schmetterlinge, die Schuppen, mit denen sie das Gleichgewicht halten! Als ich klein war, hat Arne mir erklärt, dass man sie nicht zerstören darf ...«
    Sein Blick fiel neben ihn auf den Schnee und er verstummte.
    Dort lag die bronzene Statue eines Jungen mit langem Haar und einem wirren Bart. Und auf dem Gesicht jener Statue lag ein Lächeln. Er stand auf, entschlossen jetzt.
    »Wir nehmen ihn mit.«
    Niya kniff die Augen zusammen und musterte die Statue im Schnee.
    »Wir können es versuchen«, sagte sie. »Aber verlass dich nicht darauf, dass es klappt.«
    »Wie willst du an die Schuppen herankommen?« fragte Jumar. »Denk daran, was der Mönch noch gesagt hat: Man hat noch nie von einem gehört, der einen Drachen gefangen hätte.«
    »Selbst ich habe ihn nicht getroffen«, meinte Niya. »Wie willst du ihn treffen?«
    »Ich weiß es nicht«, gestand Christopher. »Ich weiß nur eines: Das ist mein Bruder, und ich bin gekommen, um ihn nach Hause zu holen. Egal, wie. Egal, was ich dafür tun muss. Und warst du das nicht, der immer sagt, ihm würde schon etwas einfallen? Uns wird schon etwas einfallen. Lasst uns gehen.«
    Er hörte Niya leise knurren. Er sah, dass sie noch immer nicht mit ihm einverstanden war. Da hing das Blut des Jungen in der Luft zwischen ihnen, das unvergossene. Und nun kam das Gewicht einer Bronzestatue hinzu.
    Oder vielleicht war es etwas ganz und gar anderes, was zwischen ihnen hing? Unsichtbar? Unheilbar? Etwas, für das es kein Wort gab?
    Sie trugen die Statue abwechselnd, immer zu zweit. Der Dritte trug Jumars Rucksack. Der Abgrund leitete sie an seinem Rand entlang und grinste ihnen weglos ins Gesicht; es wurde Abend, bis er es aufgab und ihnen einen Pfad in die Tiefe wies. Auf einem Pfad in die Tiefe ist es nicht leicht, eine Bronzestatue von 1,94 Meter Länge mit sich zu tragen – selbst wenn sie hohl ist.
    Sie wechselten sich nicht nur mit dem Tragen ab, sondern auch mit dem Fluchen.
    Die Nacht erreichte sie mitten am Hang, und sie schliefen kurz und schlecht, ohne miteinander zu sprechen. Christopher schlang beide Arme um die Statue, damit sie nicht den Hang hinunterrutschte, während er schlief.
    Wo war Arne? War er irgendwo? Spürte er die Kälte auf seiner bronzenen Haut? Hörte er mit seinen metallenen Ohren? Sah er aus seinen nicht länger blauen, kalten Augen?
    Am Morgen frühstückten sie abgelaufenes Dosenfleisch, ein Frühstück, das selbst hungrigen Engländern zuwider sein dürfte, und dann waren sie wieder unterwegs, endlos unterwegs, hinunter, hinunter, hinunter. Gegen Abend jenes zweiten Tages wurden die Dinge besser, denn die Höhe, die bis jetzt noch immer auf ihren Ohren gesessen hatte, verließ sie, und auch der Schnee verabschiedete sich grußlos. Das Weiß wich wieder farbloser Gerölllandschaft – farblos ohne das Zutun von Drachen, einer Landschaft, in die sich kein Drache verirrte, weil es hier nichts zu sehen und nichts zu fressen gab.
    Christopher brütete vor sich hin und wartete auf eine Idee. Aber es kam keine.
    Irgendwann gab es plötzlich wieder Gras, spärlich zunächst, und niedrige Sträucher, und dann kam jener Tag, an dem Jumar plötzlich und unvermittelt sagte: »Wir sind zu langsam.«
    Und Niya, die lange gar nichts mehr gesagt hatte, erwiderte: »Das liegt daran, dass wir zusätzlich zu drei Gewehren und einem Rucksack auch noch eine 1,94 lange Bronzestatue mit uns schleppen.«
    Sie blieben stehen. Um sie wogte hohes Gras in einem scharfen Wind, aber die Sonne des Mittags brannte schon mit der Wärme eines Versprechens von Tälern und Flüssen.
    Jumar seufzte. »Was immer in Kathmandu geschieht, wir werden nicht rechtzeitig dort ankommen, um irgendetwas dagegen zu tun.«
    Er und Niya hatten die Statue getragen und Christopher den Rucksack, und nun stellten sie sie für einen Moment ab – für einen Moment? Nur für einen Moment?
    Christopher schluckte. Er streckte eine Hand aus, um die hohle Figur zu stützen, damit sie nicht umfiel. Die bronzene Hand in der seinen schien zu flehen. Als wollte sie sich ausstrecken, bitten. Lasst mich nicht alleine.
    »Wir können das nicht tun«, sagte Christopher. »Wir können ihn nicht – wir können ja die Gewehre dalassen.«
    »Christopher«, sagte Niya. »Sei vernünftig. Hör zu –«
    »Nein!« Er schüttelte wild den Kopf und kam sich kindisch vor. »Ich will überhaupt nichts hören! Er ist mein Bruder! Du hast

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