Drachen der Finsternis
Hälfte der Dosen daließen, falls der Junge zurückkäme.
Niya widersprach ihm diesmal nicht. Das Lied war jetzt verstummt.
Als Christopher wieder aus dem Zelt trat, fürchtete er einen Moment lang, er hätte sich alles eingebildet – ein Trugbild der Erinnerung, eine Wunschvorstellung.
Waren da wirklich Worte aus der Felswand gedrungen?
Eine Brücke zu ihren Gefangenen ... waren sie wirklich dort?
»Aber natürlich!«, sagte Jumar. »Dort sind sie. Dort und nirgendwo anders. Das ist der perfekte Ort, wenn man nicht zu viele Männer für die Bewachung seiner Geiseln abstellen möchte.«
Christopher sah ihn an und schluckte. Er wollte rufen, doch sein Mund war mit einem Mal unerträglich trocken, und aus seiner Kehle kam kein Laut. Nur der Schmerz pochte in seinem Arm, und auf einmal fühlte er sich so müde – aber noch war keine Zeit für Müdigkeit.
Denn dies war der Grund, aus dem er gekommen war. Das Ziel seines langen Weges.
Hatte er daran geglaubt? Hatte er geglaubt, dass er Arne wirklich finden würde? Und später, als er ihn in der geschmolzenen Stadt gefunden hatte – hatte er geglaubt, dass es ihm gelingen würde, ihn zu befreien?
Es war Jumar, der schließlich seinen Namen rief. Jumar, der sich nach dem Brett bückte und es über die tödliche Tiefe schob, bis das eine Ende sicher auf dem Vorsprung vor der Höhle lag.
»Arne!«, brüllte er über die Schlucht hinweg, »Arne? Wir sind hier! Arne!«
Und dann erschien eine Gestalt im schwarzen Rachen der Höhle – ein bärtiges Gesicht – und mitten in dem Gesicht Arnes breites Lächeln.
»Na«, sagte er, »das sieht ja ganz danach aus, als gäbe es seit Langem wieder einen Weg nach drüben.«
Und da wich die Starre aus Christophers Körper, die Trockenheit aus seinem Hals – der pochende Schmerz in seinem Arm wurde bescheiden und trat in den Hintergrund. Und in seinem Kopf begann es zu singen, laut und ausgelassen. Und er dachte, dass dies der schönste Tag ihrer Reise war.
Er dachte nicht über die Tiefe nach. Er nickte Jumar zu und auch Niya, obwohl da immer noch eine Spannung zwischen ihnen in der Luft war, eine Spannung voll vom Geruch frischen Blutes. Dann setzte er einen Fuß auf das Brett, zog den zweiten nach – und war mit fünf Schritten auf der anderen Seite, auf dem Vorsprung vor der Höhle.
»He«, sagte Arne.
»He«, sagte Christopher.
Arne war noch immer größer als er, natürlich, und noch immer breiter und kräftiger, aber gleichzeitig hatte sich alles geändert.
»Würde es dich sehr stören, wenn ich dich in den Arm nehme?«, fragte Arne. »Ich weiß, dass man das nicht mag, wenn man vierzehn ist.«
»Halt den Mund«, sagte Christopher, und dann umarmten sie sich, lange, lange.
Und Christohper merkte, das ihm etwas Nasses über das Gesicht lief. Er versuchte es unauffällig wegzuwischen, denn wenn man vierzehn ist, heult man nicht. Aber da war auch etwas Nasses auf Arnes Gesicht. Arne machte sich überhaupt keine Mühe, seine Tränen zu verbergen.
»Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?«, flüsterte er. »Mein kleiner Bruder bei den Maos! Verdammt, und ich wollte es dir nicht sagen, damals, als wir uns in der geschmolzenen Stadt gesehen haben. Mein kleiner Bruder, der es sich in den Kopf gesetzt hat, mich zu befreien!«
»Hm«, sagte Christopher. »Ich dachte immer, ich war es, der sich Sorgen um dich gemacht hat. Du weißt ja, das haben sie alle. Mama und Papa und die gesamte Schule ...«
»Ja«, flüsterte Arne, »aber du bist hier.«
Seine Stimme klang etwas heiser, und er räusperte sich ein wenig zu ausführlich.
»Wenn dir bei den Maos etwas passiert wäre«, sagte er dann streng, »das hätte ich dir nie verziehen.«
Christopher grinste.
»Oh, bis auf eine Lungenentzündung und einen Streifschuss ist mir eigentlich nichts weiter passiert, seit wir uns zuletzt gesehen haben«, meinte er. »Da war natürlich vorher noch die Sache mit der Brücke, von der Kartan mich hinunterstürzen wollte. Und –«
Arne hielt ihm den Mund zu.
»Das will ich alles gar nicht wissen«, sagte er und umarmte Christopher noch fester als zuvor. »Zumindest nicht jetzt.«
»Und hier also findet man dich nach all dieser Zeit«, meinte Christopher schließlich. »In einer Höhle im Nichts.«
»Ja, hier findet man mich«, sagte Arne. »Wer hätte das gedacht?«
Dann wurde er ernst.
»Ich bin nicht allein«, sagte er. »Die beiden anderen sind auch hier. Die US-Jungs. Komm.«
In der Mitte der Höhle gab es
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