Drachen der Finsternis
uns ein Haus in Brand stecken lassen, um deine Familie zu rächen, erinnerst du dich? Keiner von uns ist vernünftig! Menschen sind nicht vernünftig! Nichts auf der Welt hat mit Vernunft zu tun! Ich –«
Niya war ganz nahe zu ihm getreten, und ihre Nase berührte die seine beinahe. Das Feuer in ihren dunklen Augen war das gleiche Feuer, das in einer Nacht lange zuvor einen Pferdestall zerstört hatte.
»Das«, sagte sie und zeigte auf die Statue, »das, Christopher, ist nicht dein Bruder. Das ist gar nichts. Es ist leblos, gefühllos, kalt.
Es hat kein Herz, das in ihm schlägt. Es spürt keine Trauer, keine Angst und keine Enttäuschung. Da ist niemand mehr in diesem Etwas, der deine Hilfe braucht. Niemand. Dein Bruder, Christopher, ist nicht mehr da. Selbst wenn wir Schuppen oder Staub von Millionen von Schmetterlingsflügeln in einer Tüte bei uns hätten, so glaube ich nicht, dass das irgendetwas ändern würde. Es ist nichts als ein Gerücht. Und so, wie die Dinge liegen, haben wir keinen Schmetterlingsstaub. Sollen wir ein Land aufgeben, weil wir ein totes Ding nicht im Stich lassen kön-nen?«
Christopher ließ die bronzene Hand los und ballte die Fäuste. Er spürte, wie sein Atem schwerer ging – als müsste er gegen einen Widerstand anatmen, einen Widerstand zwischen ihm und Niya, einen knisternden, bösen, scharfen Widerstand, der die Luft ausfüllte und der in seiner Lunge brannte wie ein giftiges Gas. Er hatte nicht vorgehabt zu sagen, was er sagte.
»Und ihr glaubt«, sagte er, »dass ihr ein Land retten könnt, weil ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt in irgendeiner Stadt auftaucht? Was wollt ihr dort tun? Alles mit einem Fingerschnippen ändern? Wie denn? Warum nicht gleich die ganze Welt retten? Ihr habt noch immer nicht den Hauch eines Plans!«
»Doch«, sagte Jumar. »Ich arbeite daran.«
»Ach was«, meinte Christopher. »Da darf man ja gespannt sein.«
Eine Weile senkte sich das Giftgas als Wolke von schwerem Schweigen über die drei Wanderer, und das hohe Gras regte sich nicht mehr, als schwiege auch der Wind.
Dann sagte Niya: »Schön. Vielleicht ist es Unsinn. Aber uns ist es wichtig. Dir kann dieses Land egal sein. Es ist nicht deines.«
Da war es – plötzlich – wir und uns. Ihr und ich. Ein Land, das nicht das seine war.
Eine Aufgabe, die ihn nichts anging.
Christopher streckte die Hand aus – ein schwacher Versuch, noch etwas zu retten.
»Okay«, sagte er, »es war nicht so gemeint. Können wir nicht –zusammen –«
Er berührte ihren Arm, doch sie zog ihn weg.
»Fass mich nicht an«, fauchte sie. »Wir können gar nichts zusammen. Es gibt kein Zusammen. Es hat nie eines gegeben. Du hast es selbst gesagt. Du hast nie an unsere Sache geglaubt.«
Und in Christopher zerbrach knirschend etwas Gläsernes, das nur er hörte.
»So«, rief er. »Jetzt ist es ein Fassmichnichtan zwischen uns? Darf ich dich daran erinnern, dass das nicht immer so war? Du ziehst vielleicht vor, es zu vergessen, aber es gab eine Nacht, draußen, vor der geschmolzenen Stadt, da war es nichts mit Fassmichnichtan, da war es das Gegenteil, da war es Fassmichan, hierunddortunddortauch, beinahe ein Befehl, Frau Feldwebel. Denn du, du hast mit allem angefangen. Und es hat also nichts bedeutet, es gab nie ein Zusammen? Gut, gut zu wissen.«
Niya starrte ihn an, ihr Gesicht steinern, starr wie das bronzene, leblose Gesicht jenes Dings, das nicht sein Bruder war.
Er starrte zurück – und dann wanderte sein Blick zur Seite und traf den Blick Jumars, der die ganze Zeit über nichts gesagt hatte. Der nichts mit jenem Streit zu tun hatte. Der von nichts gewusst hatte. Und in diesem Moment begriff Christopher, dass es Jumar war, auf dessen Rücken sie diesen Streit austrugen. Er hätte es nicht erfahren dürfen. Er hätte es nicht erfahren müssen.
Aber Worte, die einmal heraus sind, lassen sich nicht mehr hinunterschlucken.
»So«, sagte Jumar. »So ist das also. Ja, du hast recht. Gut zu wissen. Und: Es gab nie ein Zusammen.«
Damit drehte er sich um und lief den Weg entlang, hinunter: fort, fort, fort.
Niya schleuderte Christopher zwischen zusammengebissenen Zähnen einen Fluch entgegen, drehte sich um und lief ihm nach. »Warte!«, hörte er sie rufen. »Jumar, warte! Es ist nicht – es ist alles anders, als du denkst...«
Und Christopher blieb alleine stehen, neben ihm nur eine bronzene Statue, und sah den beiden nach.
»Das«, sagte er leise, »ist das Ende unserer Reise. Das ist das Ende von
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