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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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etwas in der Luft, erst leise nur, dann wurde es lauter –
    »Jemand singt«, stellte Niya fest. »Aber wo?«
    »Es ist, als käme es aus dem Nebel, jenseits des Abgrundes«, meinte Jumar, »aus der Luft. Mitten aus der Luft. Und es ist kein Lied, das ich kenne.«
    Christopher legte den Kopf schief und versuchte, die Konzentration von der Wunde in seinem Arm gewaltsam in seine Ohren zu beordern.
    »Ich kenne es«, sagte er schließlich langsam. »Es ist ein deutsches Kinderlied ...«
    Und dann hörte er es ganz deutlich – die Worte quollen unter dem Nebel hervor und schienen ihn zur Seite zu drängen, Worte, alt und vertraut. Und vielleicht war es nicht nur ein Kinderlied. Der, der da sang, hatte wieder von vorne begonnen – vielleicht sang er das Lied schon zum hundertsten mal, wie eine Beschwörungsformel:
    ... die goldnen Sterne prangen
    am Himmel hell und klar. ..
    Christopher schloss die Augen, und eine Kaskade von Erinnerungen stürzte auf ihn ein wie ein Wasserfall: Arne, der ihren Hund hielt, den uralten schwarzen Hund, der in seinen Armen starb, und er sang, sang das gleiche Lied: So legt euch denn ihr Brüder in Gottes Namen nieder, kalt ist der Abendhauch. – Arne, der mit seiner Gitarre am Feuer saß, an einem Sommerabend, um sich herum Kinder, im Hintergrund der klobige Schatten einer Kirche: Irgendeine christliche Veranstaltung, deren Grund Christopher lange vergessen hatte. Da war auch ein Mädchen bei Arne, eines der Mädchen aus der Schule, und er spielte sein Lied für die Kinder, doch sie glaubte, es wäre für sie: Verschon uns Gott mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen .. . Arne, der Christophers Hand hielt, Jahre früher: Christopher war krank und konnte mal wieder nicht einschlafen, und Arne sang für ihn: ... und unsren kranken Bruder auch ... und er hatte gelacht. Der Mond ist aufgegangen ...
    Wieder und wieder. Es war schon damals eine Beschwörungsformel gewesen. Christopher hatte niemals herausgefunden, warum. Vielleicht war es das erste Lied gewesen, dass Arne je gesungen hatte. Vielleicht würde es das letzte sein.
    Er öffnete die Augen.
    Da waren sie wieder, die Worte, und es war Arnes Stimme, die sie sang.
    Und jetzt hatten die Worte den Nebel vertrieben. Oder vielleicht hatte der Nebel selbst diesen Moment gewählt, um sich aufzulösen. Und nicht nur sich aufzulösen: Die weißen Schlieren, die vor ihnen durch die Luft geschwommen waren, ließen sich wie von unsichtbaren Händen nach beiden Seiten fortziehen: ein Vorhang.
    Fort war der Schnee, fort die Wolken. Die Sonne schien wie ein überdimensionaler Scheinwerfer, der einzig wahre Scheinwerfer auf der einzig wahren Bühne der Welt.
    Auf der Bühne erwartete Christopher ein modernes Experi-mentalstück: Nichts im Gegenlicht. Doch er wurde enttäuscht. Da war nicht nichts.
    Da war eine Felswand, ungefähr zehn Meter vom Rand des Abgrundes entfernt, und der Abrund war kein Abgrund, sondern eine Schlucht. Die jenseitige Wand überragte die diesseitige um ein gutes Stück, eine glatte Wand, die niemand hinauf- oder hinunterklettern konnte. Genau gegenüber des Zeltes jedoch klaffte dort im Felsen der Rand eines Lochs, ein dunkler Fleck: der Eingang einer Höhle. Vielleicht war sie schon immer dort gewesen – eine Höhle wie die Höhle des Drachen, die Jumar oben auf dem Machapuchare betreten hatte. Doch bei dieser Höhle hatte jemand nachgeholfen; ihr Eingang war zu regelmäßig, und die Geröllreste einer Sprengung lagen auf dem Vorsprung vor der Höhle wie ein Rand aus Wundschorf.
    Die Schlucht war vielleicht vier Meter breit – zu breit, um sie mit einem Sprung zu überqueren. Aber nicht zu breit, um ein langes Brett darüber zu legen ...
    Da war ein Brett, ein raues, graues, verwittertes Brett. Allerdings lag es nicht über der Schlucht. Es lag im Schnee, auf dieser Seite des Abgrundes, neben dem Zelt. Sie fanden den Körper des toten Kämpfers wenige Handbreit vom Abgrund entfernt, und sein Kopf war auf das Brett gesunken. Niya rollte ihn mit der Stiefelspitze zur Seite. Braunes Blut auf altem Holz.
    »Eine Brücke«, stellte sie fest. »Eine Brücke nach drüben, zu ihren Gefangenen.«
    Eine Brücke, dachte Christopher, zu dem Lied in der Luft. Arnes Lied.
    Und so fanden sie Arne, an jenem Nachmittag, mitten im Nichts, das kein Nichts war, in der Felswand.
    Das Zelt war leer. Sie entdeckten Vorräte dort, mehrere dicke Taue, Kerosin, Trockenfleisch, Reis und Konservendosen, und Christopher bestand darauf, dass sie die

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