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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Hilfe.
    Christopher sprang zurück, schützte das Gesicht mit den Armen, fand sich im Gras wieder und verfluchte seine Panik, seine eigene Idee, sich überhaupt, spürte die Hitze ... und roch verbranntes Gras – und auch: Geschmolzenes.
    Metall.
    Bronze.
    Als er wieder aufsah, hing der Drache leblos in seiner Falle aus Spinnennetzen. Vielleicht hatte es ihn zu viel Kraft gekostet, so viel Feuer zu speien. Wie konnten Schmetterlinge überhaupt Feuer speien? Christopher fand keine Antwort.
    Manche der Schmetterlinge regten noch leicht die Flügel. Eine dicke, schwarze Spinne kroch verwundert auf einen besonders schönen roten Schmetterling mit goldenen Flecken zu, die wie Christbaumkugeln glänzten.
    Eine andere, dicke schwarze Spinne verglühte auf versengter Erde.
    Dort, wo die Netze verglüht waren, flatterten einige wenige Schmetterlinge seltsam unversehrt vom Boden auf und verschwanden in der Nacht. Sie schimmerten jetzt nicht mehr von innen. Und gleich darauf verlor der Rest des Drachen seine Konturen, und alles, was es gab, war eine erstaunliche Menge toter, klebriger Insekten in ein paar Spinnennetzen irgendwo in den Ausläufern des Himalaja.
    Nichts von alledem war logisch.
    Später begannen die Leute sich zu erzählen, an jenem Hang webten die Spinnen Netze aus Feuer. Es lodert, so sagen sie, in symmetrischen Mustern und in den schönsten Farben zwischen den hohen Grashalmen und versengt jedem die Wimpern, der wagt, es anzusehen ... Doch das war erst später.
    An jenem Tag lagen dort, wo die Netze zerrissen waren und verglommen, die Hälften einer geborstenen Bronzestatue zwischen den verkohlten Halmen. Christopher kniete sich auf schwarze Asche von vergangenen Gräsern, streckte eine zitternde Hand aus – und schrie auf. Das Metall war zu heiß, um es zu berühren.
    Die Form der Bronze war noch erhalten, doch an den Enden sah man, dass sie begonnen hatte zu schmelzen. Hatte sie sich vorher verwandelt? Für den Bruchteil eines Augenblicks? Lag da der Geruch nach verbranntem Fleisch in der Luft? Nach geschwärztem, geronnenem Blut?
    »Nein«, flüsterte Christopher, was ein Klischee aus allen amerikanischen Filmen war, und deshalb hielt er danach den Mund. Aber in seinem Kopf stand noch immer dieses Wort, rot glühend wie das verloschene Feuer:
    NEIN, NEIN, NEIN, NEIN.
    Hatte er gesehen, wie Arnes Hand die Schmetterlinge berührte? Oder nicht? Warum hatte die Verwandlung nicht schnell genug geschehen können? Schnell genug für Arne, um dem Feuer zu entrinnen? Aber es war nicht mehr wichtig.
    Christopher stand auf und klopfte sich in einer sinnlosen Geste die Asche von der Hose.
    Und das Wort in seinem Kopf wurde ersetzt durch andere, härtere Worte.
    ICH. ICH, ICH, ICH: ICH HABE IHN UMGEBRACHT. MEINEN EIGENEN BRUDER.
    Er wich taumelnd zurück von der geborstenen Statue, stolperte, fing sich wieder – wohin ging er? Wozu? Was würde er jetzt tun?
    Er war ganz allein.
    Jumar und Niya waren fort, und Arne ... Arne war tot.
    Bild einer Nacht: Ein Junge – vielleicht vierzehn, vielleicht auch schon hundert Jahre älter – auf einer Handvoll hohem Gras. Und noch zwei andere Gestalten.
    Sie beobachten ihn von ferne.
    »Ich habe dir ja gesagt, dass er verrückt ist«, flüsterte Niya. »Ich habe es dir gesagt, als er den Drachen angelockt hat. Aber was tut er jetzt? Wohin will er? Er geht im Kreis –«
    »Keine dumme Idee, das mit dem Drachen«, wisperte Jumar. »Wir müssen etwas tun, Niya. Er geht tatsächlich im Kreis. Und wo ist diese Statue –?«
    Christopher sah die beiden Gestalten nicht, die ihn beobachteten. Er sah anderes, Verschwommenes: Nebel. War das Nebel, der aus dem Gras aufstieg, oder war das noch Rauch vom Feuer? Und wenn es Rauch war, war es der Rauch, der in seinen Augen biss und sie tränen ließ?
    In seinem Kopf hörte er Arnes Stimme. Die verdammten Erinnerungen. Jetzt, wo alles vorüber war – konnten da nicht auch endlich die Erinnerungen ihn in Ruhe lassen?
    Arnes Stimme sang wieder, wie sie für ihn gesungen hatte, als er klein und krank gewesen war. Wie sie gesungen hatte, als sie Arne gefunden hatten, oben in der Felswand:
    Der Wald steht schwarz und schweiget
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Ja, der weiße Nebel ...
So legt euch denn ihr Brüder
in Gottes Namen nieder;
kalt ist der Abendhauch –
    Aber warum, dachte Christopher, warum bewegte sich die Stimme, wenn sie in seinem Kopf war? Eben war sie noch ein Stück weit weg gewesen, und jetzt war sie

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