Drachen der Finsternis
erreichen und einen Bus nach Kathmandu finden. Falls überhaupt noch Busse fahren, wenn wir dort sind. Kartan hat gesagt, noch drei oder vier Tage ... wie sollen wir das jemals schaffen?«
Sie hatten sich zum Rasten im Kies des Flussbettes niedergelassen, denn es gab nirgendwo Schatten.
Und zu ihrer Überraschung war es Arne, der diesmal den Kopf schüttelte.
»Wir brauchen keinen Bus«, sagte er. »Dort, wo der Weg wieder aus dem Flussbett hinausführt, liegt eine Stadt, die einen Flughafen hat. Einen winzigen Flughafen, so einen, der Rund-flüge über die Berge veranstaltet und der Wanderer zurück in die Stadt fliegt, wenn sie nur Zeit für die Hälfte der Strecke haben.«
Alle starrten ihn an.
»Touristenwissen. Manchmal hilft auch das weiter. Ich hatte erwogen, meinen Rückweg abzukürzen und zu fliegen, damit ich rechtzeitig wieder in dem Kinderheim bin, wo ich arbeite.«
»Nun bist du wohl ein wenig zu spät«, sagte Christopher.
»Ach, die zwei Monate!« meinte Arne leichthin und grinste.
Und so kam es, dass sie die zweite Hälfte eines Rundflugs planten, ohne die erste antreten zu wollen ...
Aber zunächst geschah etwas ganz anderes – etwas, das den Flugplatz in die blaugraue Ferne des Unerreichbaren rückte. Etwas, das all ihre Pläne infrage stellte – nicht nur die Zeitpläne: In die dringende Frage nämlich, ob sie Kathmandu überhaupt erreichen würden, und wenn ja, wie viele von ihnen ...
»Der – der Fluss!«, rief Christopher verblüfft. »Er ist wieder da!«
»Was für eine nette Geste von ihm«, bemerkte Niya. »Wieder da zu sein, meine ich.«
Sie standen am Rand des Tales, und in seiner Mitte, wo der Boden jetzt tiefer war, sickerte es klar und glitzernd zwischen den Kieseln empor. Das Glitzern begann als eine Handvoll winziger Rinnsale, Haarsträhnen von kühlem Nass inmitten von absoluter Trockenheit; ein Blinzeln blauer Spiegelaugen im blinden Nichts der wüsten Landschaft. Dann vereinigte es sich, gewann an Courage und Lebenslust, sprang voller Übermut von Stein zu Stein, weitete sich, breitete sich, strudelte, sprudelte; gleißendes, reißendes Wasser, ungezähmter, unverschämter Fluss: ja. Er war wieder da.
Wo aber war er hergekommen?
Hatte er sie die ganze Zeit über als unterirdische Ader begleitet? Sich hier auf einmal an die Welt über der Erde erinnert? Lag sein Bett an dieser Stelle so viel tiefer, dass das Grundwasser ...? Unmöglich.
Um bei Tatsachen zu bleiben: Der Fluss griff mit großen, kühlen Händen ins Tal, und in seinen Armen hielt er eine Insel. Kurz hinter der Insel teilte er sich.
Und nicht nur der Fluss: Das Tal teilte sich. Mit dem Tal jedoch teilte sich der Weg.
Sie sahen sich an und wussten, was die anderen dachten.
»Welches ist das richtige Tal?«, fragte Jumar. »Das, das uns zum Flugplatz führen wird? Wir haben keine Zeit, tagelang in die Irre zu laufen.«
Arne zuckte hilflos die Schultern.
Aber dann wies er auf die Insel.
»Es sieht fast so aus, als wohnte dort jemand«, sagte er, »den wir fragen könnten.«
Der wiederauferstandene Kali Gandaki lag im unveränderten Staub des Nachmittags – es war, als hätte man an seinen Ufern noch nichts vom unerwarteten Auftauchen des Wassers bemerkt. An jenen Ufern wuchs nichts, gar nichts, kein einziges winziges Grasbüschel, keine sterndornige Distel, nicht einmal ein Kaktus. Auf der kleinen Insel jedoch sprießte und wucherte ein überschäumend grüner Garten.
Vielleicht, dachte Christopher, waren alle Pflanzen von den Flussufern in diesen Garten ausgewandert – die unsinnige Vorstellung bemächtigte sich seiner, wie sie sich in die Fluten stürzten und hinüberschwammen – denn dort gab es jemanden, der sich um sie kümmerte: Ordentliche Reihen von gepflügter, dunkler Erde beherbergten grüne Sprösslinge, dunkelblättrige Büsche warfen großzügig mit Schatten, die langen, dünnen Äste von Oleander winkten mit rosafarbenen Windmühlen-Blüten. Und mitten zwischen Kürbis- und Kartoffelpflanzen, zwischen Linien aus hohem, windwippendem Mais und kopfnickenden Getreidehalmen lag grausteinern eine einzige Hütte.
Von hier glich die Insel – geformt von den Stromlinien des Flusses – einem grünen Auge: einem weisen, niemals blinzelnden, niemals schlafenden Auge mit einer steinernen grauen Pupille.
»Jemand wohnt dort«, stellte Jumar fest.
»Und wir werden ihm einen Besuch abstatten«, sagte Arne.
Während sie zum Fluss hinuntergingen, ihre Füße noch im trockenen Staub, waren da
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