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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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triefnäsig.
    »Dies ist der seltsamste Tag seit Langem. Zuerst kommt Ewigkeiten gar niemand und dann ... Es ist schon ein Fremder da. Mein Mann und sein Bruder haben ihn aus dem Fluss gezogen.«
    Erst da sahen sie, dass der Raum nicht ganz so verlassen war, wie er schien.
    In der hintersten Ecke saß jemand.
    Er saß vor einem Teller mit blassen Halbmoden aus Nudelteig, und die Szene ähnelte der gemalten Szene auf dem Schild so sehr, dass Christopher einen Moment glaubte, der Mensch vor dem Teller würde schielen.
    Aber er grinste nur. Ein bekanntes Grinsen.
    »Ich, äh, habe den direkten Weg genommen«, sagte Jumar. Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen und wieder zurück.
    Jumar erzählte die Geschichte genau vier Mal.
    Sie schliefen in dem Haus auf der Brücke, seit Langem wieder satt. Unter ihnen rauschte der Fluss, neben dem Feuer trocknete Jumars inzwischen ziemlich mitgenommener Rucksack, und eine Katze machte sich auf Christophers Füßen breit.
    Sie wisperten lange im Dunkeln, wie Kinder es tun.
    In die Erleichterung darüber, Jumar wiederzuhaben, schlich sich auf leisen, dornigen Füßen Jumars Trauer über das Ende seines Vaters, das nicht mehr lange auf sich warten ließ.
    »Vielleicht«, sagte er, »stimmt es nicht. Vielleicht hat Kartan die ganze Sache nur erfunden.«
    Doch obwohl alle zustimmend murmelten, glaubte das keiner von ihnen.
    Christopher träumte von dem großen Bett voller Seidenkissen, in dem der sterbende König lag – gerade so, als teilte er Jumars Sorgen, indem er auch seine Träume teilte. Vor langer Zeit hatte er schon einmal gedacht, ihre Geschichten hätten sich zu sehr ineinander verwoben, um sie noch auseinanderzupflücken. Und er hatte recht gehabt.
    Einen Tag später erreichten sie ein Tal, das trockener war als alle Landstriche, die sie bisher durchwandert hatten und staubiger als ihre staubigsten Gedanken. Selbst die Drachen schienen das Tal zu meiden, denn es bot ihnen nichts: Die einzige Farbe, die dort existierte, war ein eintöniger, heller Braunton.
    Aber wenn man kein Drache war, gab es keine Möglichkeit, als in diesem Tal entlangzuwandern – wie eine breite Straße wand es sich zwischen den steil ansteigenden Bergen entlang, sein Fluss längst eins mit der Ewigkeit oder der Vergangenheit oder der Vergänglichkeit, in jedem Fall aber tot und ohne Wasser.
    Nicht einmal der hungrigste Farbdrache hätte einen Anreiz verspüren können, sich in diesem Tal niederzulassen.
    Das Grün des Urwalds war respektvoll vor den gewaltigen Staubwolken des Tales zurückgetreten und hatte die vier Wanderer allein gelassen, allein inmitten von wasserloser, karger, gelblich-brauner Landschaft, inmitten von lebensfeindlichem, knirschendem Kies und Visionen von Gärten in der flimmernden, gartenlosen Luft. Staubträchtige Winde fegten durch das ausgetrocknete Flussbett. Die Sonne brannte unerbittlich auf jeden ein, der darin unterwegs war, als wollte sie die Wanderer entmutigen, sie zurückscheuchen, ihnen sagen: Dies mag aussehen wie die breiteste Straße des ganzen Landes, doch es ist nicht mehr als das Grab eines lebendigen Flusses, der Tod selbst, gereinigt von Tränen.
    Es musste das Kali-Gandaki-Tal sein, durch das sie wanderten: Christopher entsann sich vage, davon gelesen zu haben. War auch vom Kali-Gandaki-Tal ein Foto in jenem verhängnisvollen Bildband gewesen? Er wusste es nicht mehr.
    Sie wanderten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in dem toten Flussbett entlang, ohne einer einzigen Pflanze zu begegnen. Sie begegneten Maultierdung und Knochen, Fetzen von verblichenem Stoff und Papier, die der Wind mit sich trug. Aber nichts, was lebte.
    Jede Böe fegte ihnen Hände voll Staub ins Gesicht, sodass sie die Augen zusammenkneifen mussten. Und es war wieder warm.
    Zuerst begrüßte Christopher die Wärme, doch dann wurde sie unerträglich. Sie zogen die Jacken aus, schleppten sie eine Weile mit und ließen sie schließlich liegen. Der Schweiß rann in kleinen Wasserfällen an Christophers Rücken hinunter, vermischte sich mit dem Staub und klebte ihm die Kleidung auf den Leib. Sie ließen auch die klobigen Schuhe liegen, und Jumar fischte seine lange vergessenen Sandalen und Christophers Turnschuhe aus seinem Rucksack. Niya wanderte barfuß voran.
    Wie anders sie aussah, mit ihren kurzen Haaren!
    »Es dauert zu lange«, sagte Jumar am Nachmittag. »Verdammt, es dauert zu lange! Hinter diesem Tal liegt noch eine Menge Land, ehe wir eine einigermaßen große Straße

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