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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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dieses Flugzeug heute Nacht nicht fliegt, werden sich ihre Namen verwandeln – in Blut, in Kugeln, in Feuer. Und Kartan wird mit diesem Blut seinen Namen auf die Wand des Palastes schreiben. Und es wird nicht mehr zählen, wer den Kampf in den Straßen gewinnt.«
    Der Pilot seufzte ergeben.
    »Du hast eine Menge schöne Worte«, sagte er. »Wer bist du, dass du so sprichst?«
    Christopher sah, wie Jumar schluckte. »Ich bin niemand«, antwortete er. »Ich bin eine Waise ohne Familie. Ich bin nichts. Es ist nicht wichtig, wer ich bin.«
    Der Pilot startete den Motor, drehte sich zu ihnen um und musterte sie der Reihe nach.
    »Ihr wisst, dass sie sagen, ich wäre verrückt«, rief er gegen das Knattern des Motors an. »Und ich muss verrückt sein, wenn ich euch heute Nacht fliege. Doch die Verrückten sehen. Ihr seid so jung! Viel zu jung. Aber der Tod ist mit euch in dieses Flugzeug gestiegen. Ich spüre ihn im Nacken. Und nicht ich bin es, auf den er es abgesehen hat. Einen von euch wird er finden, dort in Kathmandu.«
    Damit wandte er sich wieder nach vorne, und kurz darauf rollte eine letzte, einsame Maschine über den einzigen Flugplatz im Annapurnagebiet, verließ den Boden, reckte ihre Nase in die Nacht und stieg – stieg, stieg, stieg, zu den Sternen empor, bis sie genug an Höhe gewonnen hatte und sich in einer parallelen Linie zum Erdboden in die Luft legte, vor sich in der Ferne ein Ziel, das noch keiner ihrer Insassen sehen konnte:
    die Stadt der nepalesischen Könige.
    Kathmandu.
    Das Flugzeug kam nicht in seiner Gänze nach Kathmandu.
    Es verlor auf dem Weg seine Farben.
    Sie begegneten dem Drachen außerhalb des Sternenlichts. Die Wolken hatten sich dicht und dick vor das Firmament der Nacht geschoben, und die Positionslichter des Flugzeuges waren die einzige Lichtquelle weithin. Rot und grün blitzte es an den Flügelspitzen, rot und grün, rot, grün – als Christopher aufwachte, lag Niyas kurzgeschorener Kopf an seiner Schulter.
    Er sah sie kaum, spürte sie nur: ihre Wärme, ihr weiches Haar an seinem Hals, ihren Atem auf seiner Haut. Und dann sah er das Schimmern in der Nacht. Ein leises, kaum wahrnehmbares Schimmern, das dennoch alle Farben des Regenbogens in sich vereinte.
    Der Pilot sah es auch.
    »Was zum Teufel ist das?«, fragte er.
    »Ein Drache«, flüsterte Christopher. Außer ihnen schien niemand wach zu sein.
    »Ihre Farben leuchten ganz von selbst, aus sich heraus. Nur ein wenig. Gerade so viel, dass man sie sieht.«
    Sie konnten jetzt die ausgebreiteten Schwingen des Drachen erkennen, kurz darauf seinen grazilen Hals, seinen schlangengleichen Körper – er flog direkt auf sie zu.
    Der Pilot fluchte und riss die Nase des Flugzeuges nach oben, aber auch der Drache änderte seine Flugbahn ein wenig – vielleicht war es Zufall –, und so bewegten sie sich weiter aufeinander zu.
    »Es wird nichts geschehen«, sagte Christopher und legte so viel Zuversicht in seine Stimme, wie er nur irgend konnte. »Wir werden einfach durch ihn hindurchfliegen.«
    »Durch ihn – hindurch? Was soll das heißen?«
    »Er hat keinen festen Körper. Er besteht aus Schmetterlingen. Tausenden und Abertausenden von Schmetterlingen. Das ist alles.«
    »Du erwartest doch nicht, dass ich das glaube?«, fragte der Pilot.
    Doch in diesem Moment war es zu spät für Glauben oder Zweifel: Der schimmernde Körper raste auf sie zu, oder sie rasten auf ihn zu, und selbst Christopher machte sich auf einen Aufprall gefasst, einen Zusammenstoß, eine Explosion –
    Doch nichts geschah. Gar nichts. Sie durchquerten den Körper des Drachen wie eine Wolke. Jumar hatte recht gehabt. Er hatte keinen Körper. Es waren tatsächlich Schmetterlinge. Wie sie in dieser Höhe fliegen konnten, würde Christopher für immer ein Rätsel bleiben. Aber gegen vieles andere, das auf ihrer Reise bereits geschehen war, war es ein kleines und unwichtiges Rätsel.
    Der Kiefer des Drachen schnappte zu, ohne dass einer der Insassen des Flugzeuges es sah, und er fraß das Glänzen des Metalls und die Farben der Positionslichter lautlos, im Vorüberflie-gen.
    Dann war er fort. Sie sahen, wie er seinen Hals einmal nach dem Flugzeug umwandte und einen nervösen Schwall Feuer in die Nacht spie. Aber zu diesem Zeitpunkt war er schon zu weit weg, um sie zu gefährden.
    Christopher hörte den Piloten aufatmen. Oder hörte er sich selbst?
    Die Lichter an den Flügelspitzen blinkten wie zuvor, nein: Grau – grau. Grau – grau.
    Ein farbloses Blinken,

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