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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Einschnitt eines Tales abriss: Vor ihnen klaffte ein felsiger Abgrund wie eine Wunde in der Landschaft. Vereinzelte Bäume krallten sich im Felsen fest, und zwischen ihrem silbrigen, nadelähnlichen Laub leuchteten orange Beeren herauf: Sanddorn.
    Und dann die Brücke.
    Die Brücke war tatsächlich beeindruckend. Das Tal, das sie überspannte, war weiter als alle Täler, die Jumar je auf einer Brücke überquert hatte, und tief unten schäumte einer jener blauen Flüsse – nur dass dieser so weit weg war, dass man seine Farbe kaum sehen konnte.
    Nein, dachte Jumar dann. Der Fluss hatte keine Farbe. Sein Wasser war grau, aber nicht einmal grau schien das richtige Wort.
    Der Leutnant bemerkte Christophers Blick und nickte grimmig.
    »An der Quelle sitzt ein Drache und trinkt die Farbe«, sagte er. »Dann geschieht das mit dem Wasser.«
    »Beunruhigend«, sagte Jumar – als Alternative zu »interessant".
    Der Leutnant nickte.
    Hinter ihnen stieß das Zicklein einen schrillen Todesschrei aus, und Jumar sah, wie Christopher zusammenzuckte, als spürte er die Schmerzen des Tieres. Die Europäer waren seltsam. Er wusste, dass sie eine Menge Fleisch aßen – und doch konnten sie den Todesschrei einer Ziege nicht verkraften.
    Sie nahmen auf den weichen Kissen Platz, die extra zu diesem Zwecke mitgenommen worden waren, und kurz darauf erfüllte der Duft nach Feuerholz und gebratenem Fleisch die Luft.
    Doch ehe sie das Festmahl beendet hatten, unterbrach jemand die träge mittägliche Ruhe des Lagers. Er galoppierte auf einem schwarzen Pferd heran, dessen Flanken glänzten wie die Nacht, und als er es direkt neben der Feuerstelle zum Stehen brachte, stand der Schaum vor seinem Maul wie eine weiße Krone.
    Die Soldaten um Jumar und Christopher versanken in tiefen Verbeugungen, einige berührten mit ihrer Stirn die Erde. Der Leutnant aber stand auf, um den Reiter auf dem schwarzen Pferd zu begrüßen.
    »Wie gut, Euch zu sehen, Hauptmann Kartan«, sagte er. »Nun könnt Ihr den Sohn Seiner Majestät selbst begrüßen.«
    Der Hauptmann saß von seinem Pferd ab und neigte zustimmend den Kopf.
    Jumar blinzelte, schüttelte den Kopf und sah wieder hin. Doch, er war es wirklich. Was tat er hier, mitten in den Bergen? War Kartan nicht in der Nähe Kathmandus beschäftigt damit, neue Truppen auf dem großen Übungsplatz im Osten auszubilden? Er hatte ihn zuletzt zwei Wochen vor seinem Aufbruch gesehen, auf einer Gartenbank, vertieft in ein Schachspiel mit dem König. Natürlich hatte Kartan keine Ahnung, dass er sie beobachtet hatte.
    Er konnte den Hauptmann nicht leiden.
    Und er musste sich eingestehen, dass er eifersüchtig war: eifersüchtig auf jenen erfolgreichen, gut aussehenden Helden, dem sein Vater seine Zeit widmete – mit dem er Schach spielte, mit dem er sich auf langen Spaziergängen über Philosophie und Literatur unterhielt. Niemand anderer als der König war es gewesen, der diesen vielversprechenden jungen Mann zum Studium nach Amerika geschickt hatte. Und in den Jahren danach war er bis an die oberste Spitze des Militärs aufgestiegen – keine Entscheidung über die Truppen wurde ohne Kartan gefällt, keine Bewegung ohne ihn ausgeführt.
    Christopher und Jumar standen gleichzeitig auf, und Kartan saß ab.
    »Erstaunt?«, fragte er mit einem leisen Lächeln um die Mundwinkel.
    Er hatte dieses glatte Gesicht, wie frisch gebügelt, dachte Jumar, und das Lächeln schien ihm schwerzufallen, da er dazu ein winziges Stück seiner Haut kräuseln musste.
    »Erstaunt, mich zu sehen?«
    Es lief kalt über Jumars Rücken wie Eiswasser, denn die Gedanken eines Sichtbaren zu lesen, ist schwer genug. Wie viel mehr Geschick erforderte es, die Gedanken eines Unsichtbaren zu lesen! Nein, sagte er sich gleich darauf: Alles, was Kartan gedeutet hatte, war Christophers Gesicht. Das, um ehrlich zu bleiben, mehr Furcht ausdrückte als Erstaunen.
    »Auch ich bin erstaunt«, fuhr der Hauptmann fort. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass mein König einen Sohn sein Eigen nennt. Und was für einen prächtigen jungen Mann er zum Sohn hat! Auf ein Wort, mein Prinz.«
    Er nahm Christopher am Arm und führte ihn ein wenig fort vom Feuer, auf die Brücke zu.
    Über die Schulter sagte er zu seinen Männern: »Wir freuen uns auf ein schönes, warmes Essen. Aber zunächst habe ich ein paar private Dinge mit dem jungen Herrn zu klären.«
    Jumar folgte den beiden bis zum Beginn der eisernen Hängekonstruktion.
    Irgendetwas stimmte nicht.
    Doch noch

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