Drachen der Finsternis
hätte, dachte er, so würde wohl keines von ihnen mehr so aussehen: Die gedrungenen, hölzernen Säulen des Klosters waren in allen Farben des Regenbogens angestrichen, Masken von Tieren oder Fabelwesen mit beunruhigend hervorquellenden Augen und irrem Blick hingen oben am Kopf der Säulen, und eine Art zylinderförmiger Windhosen aus Dutzenden von winzigen, seidenen Flicken mit allen erdenklichen Mustern hing zu beiden Seiten des Schreins an der Stirnseite des Klosters. In jenem Schrein aber lehnte hinter makellos poliertem Glas die riesige, gerahmte Fotografie eines Mannes mit einer zu großen Brille, der ernst zwischen einer ganzen Reihe an bunten Stoffgirlanden und Blütenschmuck hervorblickte, welche ihn in seinem Bilderrahmen beinahe zu ersticken drohten. Christopher war sich nicht ganz sicher, ob es der Dalai Lama war, aber auch der Mann in dem Bild schien sich nicht ganz sicher zu sein. Es lag ein gewisses scheues Zweifeln in dem Blick hinter den großen Brillengläsern, das ihn sympathisch machte.
Die Wände des Klosters waren bemalt mit Szenen aus dem Leben Buddhas, von denen Christopher die meisten nicht zu deuten wusste.
»Warum ist dort eine grüne Ratte, die Gitarre spielt?«, flüsterte er Jumar zu.
Jumar machte ein Geräusch, als müsste er ein Lachen unterdrücken, aber vielleicht hustete er auch nur.
»Ich glaube«, wisperte er, »es soll etwas anderes sein.«
Schließlich riss Christopher seinen Blick von all den Farben und Formen, all den Geschichten und Geheimnissen des Klosters los und setzte sich gehorsam mit untergeschlagenen Beinen zu den Übrigen. Sie saßen in zwei langen Reihen rechts und links vom schmalen Mittelgang des Klosters, Kämpfer und Mönche nebeneinander, und die jüngsten der Mönche, kaum älter als acht oder neun, gingen mit Schalen und Töpfen herum, um ihre Gäste zu bedienen.
Sie aßen eine seltsame Art Maisbrei, aus dem man mit sehr viel Geschick kleine Kugeln rollen konnte, um sie in Soße zu tauchen. Christopher besaß das Geschick nicht und kämpfte eine Weile vergeblich, bis sich einer der kleinen Mönche erbarmte und ihm unter verhaltenem Gekicher einen verbogenen Blechlöffel reichte.
Er fühlte Niyas Augen auf sich ruhen. Eines Tages, bald schon, würde er ihr erzählen müssen, woher er wirklich kam.
Es war während dieses merkwürdigen Essens inmitten all jener Farben, als sie ein weiteres Märchen hörten. Christopher dachte an die spinnenfingrige Alte zurück, die ihnen zu Beginn ihrer Reise ein Märchen erzählt hatte – und an ihre Genugtuung darüber, dass alle Märchen schlecht ausgingen.
Zu jener Zeit erschien es Christopher belanglos, und erst viel später würde er begreifen. Der älteste Mönch erzählte das Märchen – er erzählte es, als spräche er zu sich selbst, aus dem Blauen heraus, ohne Einleitung, ohne einen Grund für seine Erzählung. Und es war ein Märchen über einen Mönch.
»Vor langer Zeit«, begann er in einem seltsamen, eintönigen Singsang, »da herrschte in einem Land irgendwo in den Bergen ein König, der hatte einen Garten, so schön wie die Nacht, und eine Gärtnerin, so schön wie der Tag, in deren Augen die Sonne wohnte. Der König war glücklich, und sein Volk war glücklich, und in jenen Tagen lebten alle in Frieden und Eintracht. Da kam eines Tages ein Mönch von den Gipfeln hinuntergestiegen, von dem Berg her, der aussieht wie der Schwanz eines Fisches, und er wanderte weit und lange, um den herrlichen Garten des Königs zu sehen.
Als er dort ankam, klopfte er an das Tor und fand es offen. Im Garten traf er die Gärtnerin beim Beschneiden der Rosen. Der König saß neben ihr, versunken in das anmutige Bild.
›Ich habe von der Schönheit dieses Gartens gehört‹, sagte der Mönch, ›und von all den wundervollen Blumen, die dort wachsen. Das Kloster, aus dem ich gekommen bin, liegt hoch in den Bergen, und dort ist es karg und kahl. Keine einzige Blume will dort wachsen. Doch eine Blume aus Eurem Wundergarten könnte es schaffen, in der wenigen Erde zu wurzeln. Gewährt mir die eine Bitte: Lasst mich eine einzige Blume aus Eurem Garten ausgraben und sie mitnehmen in meine Einsamkeit zwischen den windigen Gipfeln.‹
Da nickte der König, doch die hübsche Gärtnerin wandte ihren Blicken von den Rosen ab und schüttelte den Kopf.
›Ich hab den Garten gehegt und gepflegt, mein König‹, sagte sie, ›für Euch habe ich es getan, und jede Minute meines Lebens wird zu einer Blüte in diesem Garten. Nein,
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