Drachen der Finsternis
Feuers. Schreie.
Er roch das verbrennende Holz, und er roch die Angst in der Luft. Das Feuer hatte jetzt begonnen, das Haus zu belecken und die schönen, hölzernen Balkongeländer zu fressen, und aus den Türen ergoss sich ein Strom von Menschen in die Nacht.
Sekunden später sah er, wie jemand in die entgegengesetzte Richtung lief, auf den Stall zu. Die Tür war wieder zugefallen, Jumar konnte sich nicht erklären, weshalb, und nun war da jemand, der sie zu öffnen versuchte: eine kleine, schmächtige Gestalt.
Wer immer das ist, dachte Jumar, er muss verrückt sein.
Und in diesem Moment wusste er, wer es war: Christopher.
Christopher, der den Todesschrei einer Ziege nicht ertragen konnte. Er versuchte, die Pferde zu retten. Er war verrückt.
Jumar sah, wie er mit dem Riegel kämpfte, und dann hatte er es geschafft, die Tür zu öffnen. Das Licht dahinter ließ ihn die Augen für einen Moment schließen. Als er sie wieder öffnete, stürmten die ersten Pferde an ihm vorbei. Er suchte Christopher in dem Durcheinander aus tanzenden Schatten. Doch er fand ihn nicht.
Jumar versuchte, sich einen Weg zurück zum Stall zu bahnen, von wo die Hitzewellen ihm entgegenschlugen. Aber die Pferde ließen ihn nicht. Es waren zu viele. Erst, als die Nacht ihre Angstschreie verschluckt hatte, schaffte er es. Der Stall war kein Stall mehr, er war eine einzige große, lodernde Fackel.
»Christopher?«, rief Jumar. Er hörte seine eigene Stimme kaum. In den Gassen des Dorfes schrien die Menschen, die jetzt allesamt aus ihren Häusern gelaufen kamen; die Flammen knisterten, und die Welt bestand aus nichts als wahnsinnigem, zusammenhanglosem Lärm.
Mitten in dem Lärm hörte Jumar seinen Namen.
Doch es war nicht Christophers Stimme, die ihn rief. Es war Niya.
Und dann sah er sie – sie kniete am Boden, wenige Meter von ihm entfernt, sie hatte ihr Versteck verlassen, aber in dem Durcheinander bemerkte sie niemand.
Er war mit einem Satz bei ihr, hockte sich neben sie und erkannte, weshalb sie dort auf der Erde saß: In ihren Armen lag ein regloser Körper.
»Christopher«, wisperte Jumar, lautlos.
»Wir müssen ihn hier wegschaffen«, sagten Niyas Lippen –oder er glaubte, dass sie das sagten. »Hilf mir!«
Jumar wollte fragen.
Er wollte fragen, was passiert war. Ob Christopher atmete. Ob er lebte. Doch er schwieg und beugte sich Niyas Willen, die seinen Rucksack nahm und ihm stattdessen die kraftlose, schmächtige Gestalt auf den unsichtbaren Rücken lud. Niemand, dachte er, der Christopher jetzt sah, wie er von unsichtbaren Händen getragen durch die Gasse schwebte, würde sie aufhalten. Beinahe musste er lächeln bei diesem Gedanken.
Sie bogen in eine Seitengasse ab, wo es ruhiger war, und das Feuer blieb knisternd hinter ihnen zurück.
»Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen«, flüsterte Niya. »Aber ich konnte ihn nirgends entdecken. Es waren zu viele Menschen da.
Ich wollte sein Gesicht beobachten, wenn er zusieht, wie sein Haus verbrennt.«
»Ich bin mir sicher, es war sehenswert«, sagte Jumar und drückte ihren Arm.
»Fragt sich, ob es das wert war«, wisperte sie und wies mit einem Kopfnicken auf Christopher. »Ich – ich wollte das nicht, weißt du. Ich wollte ihn zurückhalten, aber er hat sich losgerissen. Das Letzte, was er sagte, war: Auch du, Niya, schießt nicht auf ein Pferd. Die Pferde können nichts dafür.«
»Er wollte nicht, dass sie verbrennen. Er ist anders als wir.«
»Ich weiß«, sagte Niya, »ich weiß.«
Als sie viel später im Lager ankamen, wo die Männer und Frauen dicht an dicht in ihre Decken gehüllt auf der kahlen, abschüssigen Erde schliefen, betteten sie Christopher auf eine Decke, und Jumar fühlte seinen flachen Atem.
»Es ist der Rauch«, sagte Niya. »Er hat zu viel Rauch eingeatmet. Das Feuer ist in seine Lungen gedrungen. Es – es ist meine Schuld.«
»Nein«, murmelte Jumar, »nein, das ist es nicht.«
Und er nahm sie in seine Arme und spürte ihr Herz an seiner Brust schlagen. Sie lehnte sich gegen ihn, als wäre für einen Moment alle Kraft aus ihr gewichen, und Jumar dachte, wie wunderbar sich ihr Körper an seinem anfühlte.
Aber er wusste, dass ihre Gedanken bei Christopher waren.
Niyas Lied
Er erwachte von einem Lied.
Da waren Worte in der Dunkelheit, und er blieb mit geschlossenen Augen liegen, um ihnen zu lauschen. Die Klänge einer Gitarre begleiteten die Worte: schöne Worte, voller Trauer.
Zuerst verstand er sie nicht. Sein Kopf war noch an einem
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