Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Nacht ist nicht lang genug, um deine Geschichte zu erzählen, habe ich recht?«, fragte sie.
    »Ich fürchte, nein«, antwortete Christopher.
    »In ein paar Tagen erreichen wir das Basislager«, sagte Niya. »Vielleicht sind die Nächte dort lang genug.«
    »Wie ist es dort?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Auch ich war noch nie dort. Auch ich weiß nicht genau, wo es sich befindet. Keiner weiß das. Eine Gruppe von den Leuten des großen T wird irgendwo auf uns warten und uns hinbringen.«
    »Hast du ihn je gesehen? Den großen T?«
    Niya nickte. »Er war es, der mich unter den Trümmern unseres Hauses hervorgezogen hat. Mit seinen eigenen Händen.«
    »Mit wessen Händen auch sonst«, murmelte Christopher, und sie lachte wieder.
    »Es ist vier Jahre her«, sagte sie. »Vier Jahre lang habe ich ihn nicht gesehen. Damals hat er dafür gesorgt, dass seine Leute sich um mich kümmern. Sonst wäre ich wohl nicht mehr am Leben.«
    Niya zupfte ein paar Akkorde auf der Gitarre und schien ihrem Nachhall zu lauschen – sie stiegen in die Luft der Nacht empor wie Seifenblasen und paarten sich ungesehen und weit fort vielleicht mit dem Sternenlicht.
    »Tu mir einen Gefallen«, flüsterte Niya, kaum hörbar. »Rette keine Pferde mehr.«
    »Ich – habe sie doch gerettet?«
    »Sie alle. Aber ich hätte lieber zwei Dutzend Pferde verloren als dich.«
    Christopher grinste. »Kann ich das schriftlich haben?«
    »Ich kann nicht schreiben.«
    Er versuchte, nicht überrascht auszusehen. Im Dunkeln war das zum Glück einfach.
    »Wenn du willst, bringe ich es dir bei«, sagte er und vergaß vollkommen, dass auch er die nepalesische Schrift nicht beherrschte. »... in einer der Nächte, die lang genug dazu sind.«
    Sie nickte.
    Doch noch konnte keiner von ihnen wissen, wie lang die Nächte im Basislager wirklich waren – die längsten Nächte des ganzen Landes.
    Sie durchquerten nur noch eine Handvoll Dörfer in den nächsten Tagen, und die Hütten wurden immer niedriger und duckten sich an den wenigen ebenen Flächen dicht an den Boden wie frierende Tiere. In jedem Ort hielt Niya ihre Rede, und obgleich Christopher jedes Wort kannte, packte ihn die Macht dieser Worte jedes Mal von Neuem. Sie hatte jetzt nur noch wenige Zuhörer, schüchterne, zurückhaltende Menschen, die sich nur zögernd um sie versammelten. Auch sie sahen das Glühen in ihren Augen, aber der Wind der Berge hatte ihre Herzen hart gemacht, und sie öffneten sie nicht. Sie hatten keine Vorräte, die sie den Kämpfern mitgeben konnten, und nur in zwei Orten beschloss einer von ihnen mitzugehen.
    Am Eingang jedes Dorfes ritten sie links an den Gebetstrommeln vorüber und drehten sie, eine nach der anderen, doch nirgends verbarg sich eine Nachricht für sie.
    Christopher sah Niyas Ungeduld.
    Das Ziel konnte hinter jeder Wegbiegung liegen, hinter jeder Bergkuppe, jedem Felsen – doch sie wussten nicht, wo es sich befand, und es lag allein in der Hand ihres Anführers, des mysteriösen großen T, zu entscheiden, wann er seine Männer schickte, um sie zu ihm zu führen.
    Einmal schlugen sie ihre Zelte neben einem kleinen buddhistischen Kloster auf, und es kam Christopher seltsam vor, dass die Mönche ihr Essen mit ihnen teilten. Unter der Stupa, der Kuppel des Klosters, waren zwei Augen aufgemalt: Buddhas Augen. Er schien die Kämpfer mit einem leisen Argwohn zu beobachten.
    »Seid ihr denn Buddhisten?«, fragte er Niya, und sie lachte und schüttelte den Kopf, dass das wirre, schwarze Haar nur so flog.
    »Wir sind Kämpfer«, sagte sie. »Wir haben keine Religion. Wer kämpfen will, kann sich keine Religion leisten.«
    »Aber warum verpflegen sie euch?«
    »Vielleicht wissen sie, dass es gut ist, was wir tun?«, antwortete Niya.
    »Oder vielleicht haben sie Angst«, murmelte Christopher, doch er murmelte es so leise, dass sie es nicht hörte. Der Wind war schärfer denn je an diesem Abend, und zwei der Mönche winkten sie zu sich herein, in den Schutz der Klosterwände. Christopher zog seine Schuhe aus, wie sie alle es taten, und es war ein seltsames Bild, wie sich all jene dicken, klobigen Stiefel auf der gemauerten Empore vor dem Eingang des Klosters versammelten – all jene Stiefel, ein paar Sandalen und ein paar weiße Turnschuhe, die bis jetzt unsichtbar gewesen waren.
    Drinnen war das Kloster so bunt, dass Christopher nach dem Braun und Grau der Steppe die Augen schließen musste. Wenn ein Farbdrache je ein buddhistisches Kloster von innen gesehen

Weitere Kostenlose Bücher