Drachen der Finsternis
Ort, an dem es keine Worte gab. Er hatte geträumt – von seinen Eltern geträumt: Ein lauer Frühsommerabend, die Türen zur Veranda standen offen, und der Duft des Blauregens drang herein. Der alte Plattenspieler spielte einen Walzer, und Christopher hatte seine Eltern im Wohnzimmer tanzen sehen, im Halbdunkel, ehe sie Licht machten.
Arne hatte in der offenen Verandatür gesessen und ein Buch gelesen –
Der Walzer war alles, was aus seinem Traum blieb. Auch die Gitarre spielte einen Walzer. Wie seltsam, dachte Christopher, denn: Bin ich nicht in Nepal? Und gibt es dort etwas wie Walzer? Aber es gab auch Maggi -Instant-Nudeln, und es gab Funkgeräte und Gewehre, warum also sollte es keinen Walzer geben?
Die Stimme wiederholte ihre Worte immer und immer wieder, und schließlich konnte er sie verstehen. Es war ein Liebeslied, das da gesungen wurde, ein Liebeslied voll von Schwermut und einer Farbe wie dunklem Blau.
»Du sagst, du liebst mich«, sang die Stimme, »solange die Sterne dort stehen –«
Du sagst, du liebst mich, solange die Sterne dort stehen. Du sagst, du liebst mich, solange die Winde wehen. Du sagst, du liebst mich, aber ich kann dich nicht sehen,
mein Geliebter ist unsichtbar.
Die Nacht ist schwarz und sternenleer, und die Winde wehn nicht mehr, und mein Herz, ein Stein, so schwer, wünscht,
es wär nicht wahr.
Über die Berge bist du gegangen, drüben hat man dich aufgehangen, weiß sind deine bleichen Wangen
wie der Mond.
Durch die Flüsse bist du geschwommen und wirst nie mehr wiederkommen, hast mein Herz mit dir genommen,
hast mich nicht verschont.
Von mir wirst du keine Tränen sehen, ich werde über die Berge gehen,
ich habe noch nie geweint.
Ich werde die Brücken hinter mir brechen und dich, mein Geliebter, rächen.
Bis dass der Tod uns vereint.
Jetzt erkannte Christopher die Stimme. Sie war es, sie: Niya. Ihre Stimme war rau, wenn sie sang, wie das rostige Metall der leeren Konservenbüchsen, die er nicht getroffen hatte. Aber es war eine Stimme, die gut zur Schwermut des Liedes passte. Christopher schlug die Augen auf. Es war Nacht. Über ihm spannte sich ein weites Firmament voller Sterne.
Er wollte etwas sagen, doch seine Stimme gehorchte ihm erst nach ein paar Versuchen.
»Ist – ist es so gewesen?«, fragte er. Sein Hals schmerzte, und seine Worte waren nicht mehr als ein heiseres Flüstern.
Aber sie hörte ihn. Der Umriss ihres Gesichts mit dem wilden Haar tauchte über ihm auf und schloss die Sterne für einen Moment aus.
»Du bist wach?«, fragte sie.
»Nein«, flüsterte Christopher. »Ich spreche im Traum.«
»Ach so«, wisperte sie, »dann lass mich dir in deinem Traum sagen, dass du irre bist. Übergeschnappt. Wahnsinnig.«
»Vielen Dank«, erwiderte Christopher bescheiden.
»Aber besser ein lebender Wahnsinniger als ein toter Vernunftsmensch«, sagte Niya. »Ich bin verdammt froh, dass du wieder sprichst.«
»Jumar«, brachte Christopher hervor. »Wo ist er? Ist alles in Ordnung mit ihm?«
»Er schläft«, flüsterte Niya. »Drinnen, im großen Zelt, mit den anderen. Nur ich konnte nicht schlafen, und ich dachte, auch du könntest ein wenig Sternenlicht gebrauchen ... Jumar hat mir erzählt, dass du häufiger Ausflüge in die Bewusstlosigkeit machst und dass man sich keine Sorgen zu machen bräuchte. Aber er war sicherlich der, der sich von uns allen am meisten Sorgen gemacht hat. Er hat dich drei Tage lang auf seinem Pferd mitgeschleppt wie einen Toten. Die anderen waren dafür, dich irgendwo in einem Dorf zurückzulassen. Vielleicht wäre es besser gewesen für dich. Aber Jumar hat sich geweigert, ohne dich weiterzureiten.«
»Die anderen ...« murmelte Christopher. »Und du?«
Niya schüttelte unwillig den Kopf. Im Dunkeln konnte er den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht sehen. »Das tut nichts zur Sache«, sagte sie. »Was war es, das du mich gefragt hast?«
»Das Lied. Dein Lied von dem, der über die Berge ging ... ist es wahr?«
»Oh, sicher«, antwortete sie. »Für viele ist es wahr.«
»Und für dich?«
Sie lachte leise. »Du meinst, ob ich einen Geliebten habe, der fortgegangen ist? Nein. Aber es ändert nichts, ob es ein Geliebter ist oder dein Bruder oder dein Vater.«
»Das, was du auf dem Dorfplatz gesagt hast – es stimmt also?«
»Jedes Wort«, antwortete Niya ernst.
Christopher schwieg eine Weile.
»Dort, wo ich herkomme, ist alles so ganz anders«, sagte er schließlich.
»Woher kommst du?«
Er zögerte. »Auch diese
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